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Erkenntnistheoretische Grundlegung der Gestalttheraphie
Michael Mehrgardt
Fortschritte der Psychologie Bd. 11
LIT
Veröffentlichungen - Bücher - Textauszug aus "Erkenntnistheoretische Grundlegung der Gestalttheraphie" von Michael Mehrgardt, Fortschritte der Psychologie Bd. 11, LIT
kurze Zusammenfassung des Dialektischen Konstruktivismus:
1. Die Extension des Erkenntnisbegriffs
Die Extension meines Erkennensbegriffes, das sogenannte Materialobjekt, ist sehr weit gefasst: Erkenntnis umfasst sinnliche Wahrnehmung, Verstehen, Wiedererkennen, Aha-Erleben, jemanden oder etwas als etwas Erkennen (Heideggers Als-Struktur des Erkennens; 1986, 148 f.), Benennen, Bedeuten, unbewusstes, unterschwelliges Erkennen, Intuition, spirituelles Erfassen, Kognition im Sinne der Selbstorganisationstheorien (z.B. Maturana 1990), auch Erkennen auf dissipativer, organeller, zellulärer oder organismischer Ebene (Offe & Schurian 1981, 82). Erkennen findet auf unterschiedlichen Ebenen statt, bspw. Erkennen, Erkennen Erkennen, Erkenntnistheorien-Bilden (usw.). All diese Vorgänge können als Erkennen bezeichnet werden. Letzten Endes können wir mit Maturana und Varela auch Erkennen und Handeln gleichsetzen und sagen: "Leben ist Erkennen." (1987, 191). Vielleicht fragt nun jemand, was denn damit gewonnen sei, wenn sowieso alles Erkennen ist. Meine Antwortet lautet: Wenn wir Erkenntnistheorie betreiben, beleuchten wir alles menschliche Geschehen aus der erkenntnistheoretischen Perspektive. Also können wir auch den gestalttherapeutischen Kontakt als ein Erkennen definieren und beobachten, wie dieser sich "verhält", wenn wir an ihn jenes Prinzip anlegen.
Das Formalobjekt, also das, worauf die Erkenntnistheorie "Rücksicht" zu nehmen hat, liegt zum einen in der Frage,
„... wie sich Erkenntnis verantworten läßt ... und wie sie ... dazu beiträgt, daß sich der Mensch verantworten kann ...“ (Keller 1982, 48). Im Formalobjekt ist demnach ein inhärenter Bezug zur Ethik gegeben.
2. Der „Ort“ des Erkennens
Wenn wir nun gemeinsam auf die Suche nach "Erkenntnis" gehen, tun wir dies nicht unvoreingenommen und nicht, ohne bereits viele Entscheidungen getroffen zu haben. Eine sehr wichtige Vor-Entscheidung ist der Ort, an dem wir uns auf die Suche begeben. Auch wenn ich im Folgenden vorgeben werde, Begründungen zu haben, hat mein persönlicher Geschmack die Entscheidung längst getroffen: Ich suche nicht "im" Subjekt, nicht "in" der objektiven Welt, sondern in einem Bereich, den man mit Rumpler das Zwischen als "untrennbare Verbindung ... von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem" (1996, 94) nennen könnte. O. Mehrgardt bezeichnet mit gleicher Intention Erkennen als "Zwiegespräch zwischen Subjekt und Objekt" (1995, 35).
3. Die Inhalte einer Erkenntnistheorie der psychotherapeutischen Situation
Über traditionelle Erkenntnistheorien hinausgehend, muss eine psychotherapeutische Erkenntnistheorie ein "Mehr-Personen-Stück" sein. Es reicht die Beantwortung der Frage, wie Erkennen stattfindet, nicht aus; es muss darüber hinaus ein Modell errichtet werden, welches das Ineinandergreifen mehrerer Erkenntniswelten, zumindest derer von Therapeutin und Klientin, thematisiert. Damit eng verbunden, steht die Frage, auf welche Weise und durch wen einer Erkenntnis Wahrheit zugesprochen, eine Diagnose, eine Intervention als gültig und relevant anerkannt wird. Die Hauptfrage lautet also: Wie entsteht und worauf beruft sich Wahrheit in der Psychotherapie? Sich diesen Fragen sehr ernsthaft zu stellen, ist deshalb von Bedeutung, weil erstens die therapeutische Beziehung prinzipiell unausgewogen und weil sie zweitens nach außen abgeschlossen ist. Damit ist der psychotherapeutischen Situation als solcher die Möglichkeit des Machtmissbrauchs inhärent. Erkenntnistheorie und Ethik sehr persönlich zu betreiben, sehe ich als Gegengewicht gegen diese nicht eliminierbare Gefahr an.
4. Realität, Wirklichkeit und Wahrheit
Mit Parmenides von Elea (um 500 vor Christus) war der Zweifel geboren, eine Zwei-Teilung der Welt in eine erscheinende, phänomenale und eine wahre, jenseits der Phänomene liegende. Man kann jedes Bemühen der abendländischen Philosophie interpretieren als den Versuch, das Verhältnis dieser beiden Welten zueinander logisch oder dogmatisch zu klären. Descartes, den wir für die folgenschwere Spaltung zwischen Leib (res extensa) und Seele (res cogitans) verantwortlich zu machen pflegen, ist nur die Folge dieses ursprünglichen Zweifels; Kant ist schließlich derjenige, der uns am konsequentesten vor Augen geführt hat, dass wir diese Kluft niemals wirklich überwinden können. Jeder Versuch, dieses Dilemma zu lösen, scheitert. Neben vielen Ansätzen, die, diese Spaltung konstatierend, klammheimlich einen gelungenen Brückenschlag behaupten, gibt es manche Versuche, diesen Dualismus einfach zu leugnen oder als nicht von Interesse auszublenden. Ich denke z.B. an Pragmatiker und Positivisten auf der einen Seite und an phänomenologische und radikal-konstruktivistische Entwürfe auf der anderen Seite. Diese Ansätze mögen durchaus fruchtbar sein; die außer Acht gelassene Spaltung jedoch schimmert immer wieder durch und führt zu unlösbaren Widersprüchen.
Es gibt wohl keinen anderen Weg, als dass wir uns mit dieser Spaltung beschäftigen. Ich möchte diese beiden "Welten" begrifflich folgendermaßen fassen: Die phänomenale, dem Individuum erscheinende Welt nenne ich mit Stadler und Kruse (1986, 78) Wirklichkeit, die nicht direkt zugängliche, transphänomenale Welt bezeichne ich als Realität. Ich verwende im Folgenden die Abkürzungen W und R.
Wahrheit ist, so könnte man sagen, die "Zuordnungsvorschrift" von R und W. Man kann die folgenden Typen von Erkenntnis-/ Wahrheitstheorien unterscheiden (vgl. auch Portele 1989, 44; Stadler / Kruse 1991, 134 ff.):
(a) naiv-realistische Ansätze (W = R): Die R spiegelt sich im Gehirn wider. "Wahr ist, was ich wahrnehme." (z.B. Naturphilosophen, Positivisten);
(b) kritisch-realistische Ansätze (W = f(R)): Die Vorgänge der R stimmen mit denen des Gehirns (W) in ihrer Gestalthaftigkeit überein (z.B. Isomorphiethese der Gestalttheorie, Brentanos Phänomenologie);
(c) idealistische Ansätze (W = f(W)): "Wahr ist, was ich wahr mache." Die Welt ist das Ergebnis der Konstruktionen des Gehirns (z.B. Sophisten, Radikale Konstruktivisten, Phänomenologie des späten Husserl);
(d) dialektische Ansätze (W = f(W,R) und R = f(W,R): "Wahr ist, was vergänglich ist." (z.B. mein eigener Ansatz (s.u.), mit Einschränkungen auch: Nietzsche, Hegel, Friedlaender, Buddhismus, Schmitz' Phänomenologie).
Die meisten traditionellen Wahrheitsbegriffe sind letztlich dogmatischer Natur, weil sie einen letzten Beurteiler erfordern, der eine absolute Entscheidung treffen zu können behauptet. Für die Therapiesituation ist ein Wahrheitsverständnis vonnöten, mit welchem verschiedenen, ja gegensätzlichen Wahrheiten Gleichberechtigung zugesprochen wird. Dies kann ein dialektisches Herangehen, wie ich zeigen werde, leisten.
Vorläufer und – in entsprechender Abwandlung – Konstituenten des Dialektischen Konstruktivismus sind Phänomenologie, (Radikaler, Sozialer) Konstruktivismus und Kritischer Realismus. Deren wesentliche Thesen werden im Folgenden geschildert, um dann in die Hauptbestimmungsstücke des Dialektischen Konstruktivismus – Dialektik und Transzendenz – Eingang zu finden:
5. Phänomenologie
Die Phänomenologie Husserls (vgl. Held 1985) ist eine Methode, durch (phänomenologische, eidetische, transzendentale) Reduktionen "zu den Sachen selbst" zu gelangen. Das Objekt soll so von allem Zufälligen, Unwesentlichen, Varianten, Theoretischen befreit werden, um so eine originäre Evidenz zu erhalten. Husserl setzt eine intentionale Beziehung des Erlebens (W) zum Objekt (R) voraus und befindet sich - wie er behauptet - in einem Bereich des Zwischen: Das Subjektive trägt nach Husserl den Gegenstandsbezug in sich selbst. Damit wäre das Erkenntnisproblem vielleicht wirklich gelöst, würde Husserl nicht eine Urteilsenthaltung (Epoché) über die Existenz der R als Grundhaltung seiner phänomenologischen Methode einfordern. Er klammert ihre Existenz quasi ein und bleibt damit zwangsläufig doch noch oder wieder dem Bereich des Subjektiven verhaftet. Wenn Husserl im Laufe seiner Forschung immer von neuem versucht, die Transzendentalität seiner Philosophie zu beweisen, kann man dies auch als ein Hinterherrennen hinter der R beschreiben, die sich ihm immer wieder entwindet. Dementsprechend muss er, um in den subjektiven Vollzügen den Gegenstand-an-sich aufzuspüren, auch immer weitere Reduktionen durchführen, zunächst die eidetische, dann die phänomenologische, die transzendentale und schließlich auch die Reduktionen des Ich und der Zeit. Die phänomenologische Methode des Reduzierens müsste also ad infinitum weitergeführt werden, ohne jemals ans Ziel zu gelangen. Eine wesentliche Implikation einer solchen Phänomenologie besteht in der Annahme, jemand könne mehr oder weniger nahe an der R oder an der Wahrheit sein, eine These, die zwangsläufig dazu führt, dass der Forscher (oder der Therapeut) seine eigene W für überlegen hält. Ich nenne dies eine (implizite) asymptotische Wahrheitstheorie.
Diese Kritik erfordert allerdings nicht eine Ablehnung von Phänomenologien, sondern ihre Beschränkung: Als Erkenntnistheorie ist sie nicht ausreichend; denn sie liefert uns keine Vorstellung davon, was passiert, wenn zwei oder mehrere erkennende Subjekte aufeinander treffen. Entweder könnte die Wahrheitsfrage nur mittels Macht "gelöst" werden, oder aber die Phänomenologie müsste nachweisen, dass die W.en verschiedener Subjekte sich mit zunehmender Reduktion tatsächlich angleichen (was eine Voraussetzung, aber noch kein Beweis dafür wäre, dass die R nun erfasst wäre).
Die zweite Beschränkung der Phänomenologie als Erkenntnistheorie liegt darin, dass wir nicht voreilig das Erkennen auf phänomenal Erscheinendes, d.h. in gestalttherapeutischer Terminologie: auf Figur und Grund, begrenzen dürfen (vgl. Mehrgardt 1994, 399 ff.).
Die Hauptfrage der psychotherapeutischen Erkenntnistheorie, wie nämlich interpersonelle Wahrheit entsteht und worauf sie sich beruft, kann durch die Phänomenologie allein nicht beantwortet werden. Diese Feststellung gilt wohl auch für andere (Lewin, Brentano, Heidegger) und neuere (Schmitz) Ansätze.
Dessen ungeachtet, bietet die Phänomenologie eine Reihe von fruchtbaren Anregungen für eine Erkenntnistheorie der Psychotherapie:
- Das Subjektive wird "rehabilitiert".
- Erkennen ist ein Vorgang im "Zwischen", ich würde sagen: ein mediales Geschehen, in dem "Subjekt" und "Objekt" gleichermaßen aktiv und passiv sind. Hier erscheint mir insbesondere Schmitz' Ansatz des leiblichen Erkennens fruchtbar (1989).
- Es wird das konditionalgenetische Prinzip (Lewin), das Hier-und-Jetzt, Für-uns-Fragen (Heidegger) herausgestrichen.
6. Konstruktion
Der Radikale/ Soziale Konstruktivismus ist eine Erkenntnistheorie, welche auf dem Hintergrund der modernen Selbstorganisationsforschung entstanden ist. Zwei Thesen können als grundlegend gelten: Die Selbstorganisationsthese spricht von Systemen, die nicht von außen determiniert, sondern strukturdeterminiert sind. Äußere Faktoren werden lediglich als Perturbationen (Störungen) begriffen. Die These der Selbstreferenzialität behauptet die Existenz von Systemen, die nur mit sich selbst interagieren. So ist bspw. das Gehirn semantisch abgeschlossen, so dass es sich seine Welt selbst "errechnen" muss. Jede Erkenntnis ist somit eine Konstruktion des betreffenden kognitiven Systems. Diese Erkenntnistheorie ist eine Radikalisierung einer konstruktivistischen Haltung, die sich in der Geschichte der Philosophie über Kant, Giambattista Vico, Giordano Bruno, den Skeptizismus und anderen bis hin zum Sophismus zurückverfolgen lässt. Die wesentliche Leistung des Radikalen Konstruktivismus liegt darin, die unentrinnbare Selbstreferenzialität allen Erkennens - die Philosophen würden sagen: den heuristischen Zirkel - aufgewiesen und begründet zu haben. Damit wurden auch logische Kreisargumentationen "salonfähig", als Erweiterungen des traditionellen mechanistisch-linearen Denkens.
Da aber in diesem Theorem die Konzeption des Konstruktionsbegriffes zu kurz greift, scheint die Außenwelt nur noch als Konstruktion zu existieren und somit verloren gegangen zu sein. Das Gegenüber bleibt passiv, es verblasst und existiert nur noch im Kopf des Subjekts. Den Vorwurf des Solipsismus hat der Radikale Konstruktivismus meines Wissens nie entkräften können, auch nicht mit von Foersters Herrn mit der Melone (1990, 58 f.). Damit verbunden sind die Gefahren der Beliebigkeit und Morallosigkeit, die besonders Krüll (1987, 250) und Hoffman (1991, 222) kritisieren.
Aus dem Radikalen Konstruktivismus müsste in konsequenter Anwendung auf sich selbst eigentlich die grundsätzliche Gleichrangigkeit allen Erkennens folgen, egal ob es sich dabei um sogenannte wissenschaftliche oder alltägliche Erkenntnisweisen handelt. Es dürfte also prinzipiell die Behauptung unmöglich sein, "näher" an der Wahrheit zu sein. Ich finde diese Folgerung für eine psychotherapeutische Erkenntnistheorie sehr wichtig; im radikal-konstruktivistischen Diskurs, besonders im Bereich der systemischen Familientherapie, stößt man jedoch auf zahlreiche Diskriminierungen des Alltagserkennens gegenüber dem "richtigeren" radikal-konstruktivistischen. Insofern kann man den Radikalen Konstruktivismus, zumindest in seinen Anwendungen, als asymptotische Wahrheitstheorie entlarven.
7. Das Innen-Außen-Paradox
Der Kritische Realismus kann als Erkenntnistheorie der Gestalttheorie betrachtet werden. Die wesentliche Leistung dieses Entwurfs ist die Lösung des Innen-Außen-Paradoxons, welches die Frage aufwarf: Wieso nehme ich die Außenwelt als außerhalb von mir wahr und nicht quasi in meinem Kopf, da doch die zugrunde liegenden physiologischen Prozesse sich in der Großhirnrinde abspielen? Es galt also zu klären, wie die phänomenologische Erfahrung vom Menschen-in-der-Welt und gleichzeitig die physiologische Erkenntnis von der Welt-im-Menschen Geltung besitzen können. Die Lösung liegt - kurz gesagt - in einer "Verdoppelung" der Innen- und der Außenwelt, indem zwischen jeweils phänomenaler (anschaulicher) und transphänomenaler (physikalischer) Welt unterschieden wird. So kann man zu beiden Aussagen gelangen, dass sich nämlich die (anschauliche) Welt im (physikalischen) Organismus befindet (was als solches nicht ins Bewusstsein gelangen kann) und ebenso der (phänomenale) Organismus in der (phänomenalen) Außenwelt (was phänomenal gegeben ist). 1997 hat Ken Wilber auf einer dem Kritischen Realismus sehr ähnlichen Grundlage den Wahrheitsbegriff differenziert. Dabei gelangt er auch zu einer Verdoppelung der Innen- und Außenwelt (Wilber: individuell versus kollektiv) in einen phänomenalen und einen transphänomenalen Bereich (Wilber: innen- versus außenorientiert).
Der Hauptkritikpunkt setzt genau an dieser topologischen Prämisse des Kritischen Realismus an: Es ist nämlich impliziert, dass die transphänomenalen (R) und phänomenalen (W) Bereiche überschneidungsfrei sind, dass die Grenze zwischen beiden absolut, eindeutig und unverrückbar existiert, dass also ein Objekt entweder der R angehört oder der W einer erkennenden Person. Um aber eine solche absolute Grenze behaupten zu können, müsste man, wie Keller betont (1982, 17), diese Grenze bereits überschritten haben. Dieser Widerspruch findet sich auch tatsächlich in den grafischen Entwürfen des Kritischen Realismus (Metzger 1954, 283; Bischof 1966, 28; vgl. Mehrgardt 1994, 248 ff.). Die Lösung des Kritischen Realismus aus diesem Dilemma geschieht nicht, wie im Radikalen Konstruktivismus, auf solipsistischem Wege, sondern mit der stillschweigenden Annahme einer Isomorphie, also einer Gestaltidentität zwischen anschaulichen und physikalischen Prozessen. Die Isomorphiethese wird von Keiler zu recht als „verschämte Abbildtheorie“ kritisiert (1980, 93). Meines Erachtens ist eine solch starre, überschneidungsfreie Spaltung zwischen R und W gerade für die Psychologie nicht haltbar, da wir es zu tun haben mit Sichtweisen von Sichtweisen. Das bedeutet, dass die W eines Klienten aus der Perspektive des Therapeuten zur R gehört.
Eine topologische Vorstellung beinhaltet die Überzeugung von mehr oder weniger "Wahrheitsnähe", weil man sich ja in unterschiedlicher Entfernung von einer Grenze aufhalten kann. So ist dann auch die kritisch-phänomenale Welt in der Anschauung der Kritischen Realisten der naiv-phänomenalen Erkenntnis überlegen. Insofern entpuppt sich auch diese Erkenntnistheorie als asymptotisch.
8. Dialektik
Ich möchte dem einen dialektischen Entwurf gegenüberstellen. Dazu sind einige Vorbemerkungen zum Begriff der Dialektik vonnöten: Ich verstehe hier Dialektik nicht als "klappernden Rhythmus von Thesis, Antithesis und Synthesis" (Weischedel 1987, 213), sondern als grundlegende Betrachtungsweise von polaren Gegensätzlichkeiten als "Einheit der Identität und der Verschiedenheit" (Hegel 1975, 40). Polare Gegensätze existieren miteinander, füreinander, aneinander. Man kann den einen Pol nicht ohne den anderen ergreifen; sie sind, wie Frambach mit Friedlaender sagt, "oppositiv (spiegelhaft) homogen" (1995, 24). Wenn man eine Seite des Spiegels wegnähme, existierte die andere ebenfalls nicht mehr. Eine Dualität hingegen ist eine Spaltung, ein Entweder-Oder-Kampf. Eine Seite ist schwächer, geht schließlich verloren, wie es auch der R in idealistischen Konzepten ergeht.
Perls, Hefferline & Goodman nehmen in ihrem grundlegenden Werk (1951 bzw. 1991 a, 1991 b) eine dialektische Haltung ein, die an einigen Stellen durchschimmert oder gar expliziert wird. Sie versäumen aber eine ausdrückliche Klärung des Verhältnisses zwischen R und W, so dass infolgedessen die wichtigsten gestalttherapeutischen Konzepte schwammig bleiben.
Die Grundthese meines Dialektischen Konstruktivismus bezieht sich auf ein dialektisches Verhältnis von R und W, und zwar auf allen Abstraktionsstufen: Demnach sind auch Ontologie und Erkenntnistheorie dialektisch miteinander verwoben, Innen und Außen, Organismus und Umwelt, Ich und Du (usw.). Das bedeutet z.B.:
- dass man Erkenntnistheorie nicht ohne Ontologie und umgekehrt betreiben kann. Der Gegenpol ist stets - zumindest implizit - mitgegeben;
- dass man R nicht ausschließen kann (im Unterschied zur Haltung der Epoché‚). R ist immer hautnah und flüchtig. Deshalb gibt es kein "Näher-an" oder "Entfernter-von" R, der "Abstand" ist konstant. Eine Bewertung der Erkenntnisse als richtig oder falsch ist erkenntnistheoretisch nicht möglich;
- dass es unendlich viele W gibt, aber auch unendlich viele R. Mit jeder W-Konstruktion wird ebenfalls R konstruiert. Jede Konstruktion wird zu einer Tat-Sache, schafft also R. Dialektisch ausgedrückt: Die Realität verwirklicht sich, und die Wirklichkeit realisiert sich;
- dass deshalb nicht nur die eigene Konstruktion, sondern auch die durch diese geschaffene R zu verantworten ist;
- dass Erkennen stets an dieser "Nahtstelle" von R und W, Ich und Du, Innen und Außen (usw.) geschieht, also eine gemeinschaftliche, mediale Aktivität und Passivität ist;
- dass die Termini R, W, Erkennen, Ich, Du usw. sich überschneidende, topologisch nicht fixierbare, unscharfe Begriffe sind.
Aus diesen Sätzen ergeben sich eine Reihe von sehr bedeutsamen therapeutisch-ethischen Prinzipien, die ich weiter unten ausführen werde.
Da eine dialektische Beziehung für uns "Westler" sehr schwer vorstellbar ist, möchte ich zur Veranschaulichung ein Zitat und eine Metapher vorbringen: Helm Stierlin beschreibt Heideggers Versuch, R in die Hand zu bekommen, folgendermaßen:
„So weit Heidegger auch seine Untersuchungen vorangetrieben hat ... scheint das Sein sich ihm doch immer wieder in mysteriöser Weise zu entwinden. Es ist immer gerade um die nächste Ecke ... Aber gleichzeitig scheint er ständig zu versprechen, daß es nun gar nicht mehr so weit sei ...“ (1992, 26)
Eine weitere Klärung soll die folgende Tantalus-Metapher herbeiführen: Tantalus setzt den Göttern seinen eigenen Sohn als Festspeise vor, um deren Erkenntnisgrenzen zu erkunden. Zur Strafe für diese Hybris wird er in den Hades verbannt, wo er, im Wasser stehend, die köstlichsten Früchte direkt über seinem Kopfe hängen sieht. Wasser und Früchte jedoch weichen zurück, sobald er aus Durst und Hunger nach ihnen ausgreift. Sie sind hautnah, wie die R, aber niemals zu fassen; Wahrheitshunger und -durst sind niemals zu stillen.
9. Transzendenz, Relation und Wahrheit
Eine der wesentlichsten Leistungen der Radikalen Konstruktivisten war der Aufweis der unentrinnbaren Selbstreferenzialität allen Erkennens gewesen, also seiner Abgeschlossenheit nach außen und seiner exklusiven Selbstbezugnahme. Kant hatte dieses heuristische Dilemma darin gesehen, dass man doch immer nur beurteilen könne, "ob meine Erkenntnis vom Objekt mit meiner Erkenntnis vom Objekt übereinstimme." (1958, 476). Es gibt einige Versuche in der Geschichte der Wissenschaftstheorie, dieses Dilemma auszublenden. So führt sich der Versuch pragmatischer Wahrheitstheorien, die Metaphysik aus der Diskussion zu verbannen, selbst ad absurdum, weil er die Kenntnis einer absoluten Grenze zwischen Physis und Metaphysis voraussetzt, die als solche bereits metaphysisch ist. Auch Poppers Versuch, dieses Dilemma mit dem Trick der Falsifikation zu überlisten, scheitert letztlich an der Unvollständigkeit seines Kritischen Rationalismus; denn die von diesem Ansatz vertretene Falsikationsmethode müsste ja auch auf die jeweils gewählte Methode der Falsifikation ad infinitum angewendet werden.
Ein "Ausweg" aus diesem erkenntnistheoretischen Dilemma bietet sich aber überraschenderweise demjenigen, der die Selbstreferenzialität des Erkennens, also seine Ausweglosigkeit, anerkennt. In vielen Ansätzen ist bereits die Möglichkeit beschrieben worden, dass sich Transzendenz aus der Selbstreferenzialität "entfaltet" (vgl. Synergetikforschung, z.B. Haken & Stadler 1990). Etwas konkreter auf die psychotherapeutische Situation bezogen, können wir dieses "Entfalten" mit der Frage umschreiben, ob zwei selbstreferenzielle Systeme, die semantisch geschlossen sind (Klient und Therapeut), aufeinander treffen, sich einander öffnen und einen neuen geschlossenen dyadischen Erkennensbereich bilden können. Ich habe dies mit dem Hinweis bejaht, dass die selbstreferenzielle Geschlossenheit bei Systemen unterschiedlicher Organisationsniveaus (Nervensystem - Organismus - Dyade - Gesellschaft usw.) sich auf verschiedene Kriterien bezieht, hinsichtlich derer sie geschlossen sind: Das Nervensystem ist semantisch geschlossen, der Organismus operational, die Dyade kommunikativ, das Ökosystem interaktional (1994, 412 ff.).
Grundlegend ist ein solcher Transzendenzbegriff für Bubers Vorstellung einer Ich-Du-Begegnung (z.B. 1962) sowie für Jaspers' Grenzerfahrung und Existenzerhellung (z.B. 1948). Auf Ersterem basiert der gestalttherapeutische Kontaktbegriff, der ja nicht eine Ich-Es-Konfrontation oder ein gegenseitiges Manipulieren beinhaltet, sondern eher ein Ineinander-Aufgehen. Jaspers' Grenzerfahrung und Existenzerhellung wiederum bilden eine wichtige Grundlage für ein gestalttherapeutisches Phasenmodell, in welchem vor der Befreiung (Transzendenz) die Phasen der Ausweglosigkeit, des Impasse, der Implosion, des Todes (Selbstreferenzialität: Nicht-heraus-Können) stehen (vgl. auch Frambach 1995). Zu bemängeln an diesen Konstrukten ist eine zumindest implizite Bewertung eines "idealen" Kontakts oder eines "richtigen" Durchlebens der Impasse- und Implosionsschicht in der Therapie. Eine derartige Bewertung, gleichgültig ob ausgesprochen oder nicht, schafft eine Spaltung zwischen Bewertendem und Bewertetem, die meines Erachtens einer therapeutischen Heilung im Wege steht.
Gelingt es uns, den Begegnungsbegriff von einer solchen (impliziten) Wertung zu bereinigen, gelangen wir zu einem Konzept therapeutischer Relation, das grundsätzliche Gleichwertigkeit der Beteiligten voraussetzt. Wahrheit entsteht somit in und aus der Relation, in der gegenseitigen Erfahrung von Wider-Stand, Gegen-Stand, Bei-Stand. Sie ist greifbar, unmittelbar, leibhaftig, wirk-lich. Wahrheit ist - im etymologischen Sinne - ein Vertrauen auf die Relation, in der sie entsteht. Dabei muss dieses Vertrauen nicht unbedingt positiv sein: Man kann auch einer gegenseitigen Antipathie als wahr vertrauen.
Von besonderer Bedeutung an diesem Wahrheitsbegriff ist: Da R und W sowie Ich und Du usw. unscharfe Begriffe sind, wird der Wahrheitsbegriff ebenso unscharf, d.h. veränderlich. Wenn Wahrheit aus einer Relation entsteht, dann kann nur etwas Veränderliches wahr sein. Wahrheit kann nicht starr sein, nicht dogmatisch, nicht allgemein verbindlich, weder auslöschbar noch ewig, nicht nichts sagend, nicht konsequenzenlos, nicht ohne Stellungnahme und Moral und deshalb nicht beliebig. Die relationale Wahrheit möchte ich also folgendermaßen definieren:
Eine Erkenntnis ist solange wahr, wie sie durch weitere Relationen mit jemandem oder etwas veränderbar ist.
Einem solchen Wahrheitsbegriff verwandt ist Nietzsches Verständnis von Wahrheit als Rätsel und Irrtum (vgl. Eidenschink 1995, 42 f.). In diesem Zusammenhang möchte ich nur hinweisen auf die Begriffe des Werdens und des Nichts bzw. der Indifferenz in Nietzsches bzw. Friedlaenders Entwürfen sowie im buddhistischen Denken, Konzeptionen also, die in die Gestalttherapie Eingang gefunden haben (vgl. Frambach 1996, bes. 11 ff.).
10. Dialektisch-transzendente Ethik
Ich möchte im Folgenden die wichtigsten ethischen Maximen des Dialektischen Konstruktivismus für die gestalttherapeutische Praxis herausstreichen.
(a) Nichtdiskriminierbarkeit des Erkennens
Unterscheiden heißt Grenzen Ziehen, Bewerten, Ausschließen. Ohne eine erkenntnistheoretische Bewusstmachung machen wir Therapeuten dies implizit, indem wir unser eigenes Erkennen unhinterfragt als "wahrer" voraussetzen und dem Klienten dies zwischen den Zeilen immer wieder verdeutlichen. Eine Diskriminierung ist - wie gezeigt - erkenntnistheoretisch nicht begründbar. Die Einheitlichkeit des Erkennens gilt in den folgenden Aspekten:
- Einheit der Erkenntnisebenen: Unser praktisches Diagnostizieren und Intervenieren beruht auf Störungs- und Heilungsmodellen, diese wiederum auf Krankheits- und Gesundheitsbegriffen, die sich ihrerseits zurückführen lassen auf bestimmte herrschende Doxa im Sinne Bourdieus (z.B. Portele 1992, 86 ff.). Je weiter man die Betrachtung in die Tiefe der unausgesprochenen Vorannahmen hinabführt, desto stärkere (vermeintliche) "Selbstverständlichkeit" und Unveränderbarkeit findet man vor. Jedes Handeln transportiert auch die impliziten Botschaften der abstrakteren Ebenen mit.
- Einheit von Diagnostik und Intervention: Weil Erkennen Handeln impliziert und weil jede Intervention somit eine (neue) Diagnose hervorbringt, ist ein heuristisches Vorgehen (vgl. Grawe 1988, 1988 a) in der Therapie vorzuziehen. Ein solches ist in dem Bemühen um gestalttherapeutische Prozessdiagnostik bereits verwirklicht.
- Einheit des erkennenden Systems: In der Gestalttherapie und in einigen familientherapeutischen Konzepten wird angestrebt, die Therapeutin als Bestandteil des zu diagnostizierenden Systems zu betrachten. Da zudem die Therapeutin ihr Erkennen gleichermaßen konstruiert wie (u.a. von der Klientin) empfängt und weil die Erkennensvorgänge beider selbstreferenziell aufeinander bezogen sind, ist auch die Klientin notwendigerweise an der Diagnosestellung beteiligt. Jedes Heraushalten der Klientin aus dem Prozess der Diagnostik wäre eine implizite Subjekt-Objekt-Spaltung und somit eher ein Akt des Machtausübens als einer des Erkennens.
- Einheit von "naivem" und wissenschaftlichem Erkennen: Ich habe deutlich gemacht, dass Erkennen immer an der "Nahtstelle" von R und W geschieht, also niemals mehr oder weniger "nah" an der Wahrheit sein kann. Genau dies aber wird impliziert durch eine Diskriminierung des so genannten naiven Erkennens. Erstaunlich finde ich, dass viele Radikale Konstruktivisten und Systemiker das alltägliche Erkennen als erkenntnistheoretischen Irrtum sogar für das Entstehen von psychischen Störungen verantwortlich machen (z.B. Bateson 1983, 621 ff.; Rosenbaum 1982, 88). Dies ist ein Rückfall in herkömmliche Denkmuster und widerspricht letztlich der eigenen Konstruktionsthese, weil implizit die eigene Erkenntnistheorie als wahr(er) behauptet wird. Der dialektische Standpunkt hingegen setzt von vornherein alle möglichen Erkenntnisweisen, also auch die von Therapeut und Klient, als gleichwertig und -rangig an, woraus folgt, dass das Erkennen des Klienten nicht als pathogen oder falsch beurteilt werden kann.
Wahrheit ist dann immer das Ergebnis einer Relation, Wahrheitskriterium ihre Offenheit für (weitere) Relationen und damit ihre Veränderlichkeit.
- Einheit von Erkennen und Verantwortung: Die dialektisch-transzendente Sichtweise betrachtet Erkennen als Auswahl eines Standpunktes und damit eo ipso als einen zu verantwortenden Akt. Ludewig hält entsprechend das Ausüben von Therapie für "angewandte Ethik" (1987, 168). Portele & Roessler (1994), Fuhr & Portele (1990) und Teschke (1989) formulieren entsprechende therapierelevante ethische Schlussfolgerungen.
(b) Die Zeitdimension
Wheeler widerspricht dem traditionellen Vorurteil, dass Gestalttherapie ahistorisch oder gar antihistorisch sei (1993, 89). Er schreibt, "... daß Psychotherapie ... immer eine ... Neuorganisation der Strukturen des Grundes über die Zeit hin ist ..." (ebd., 11). In der Selbstorganisationsforschung betont man, dass ein System einen geschichtlichen Verlauf nimmt; denn Selbstreferenzialität kann nur dann stattfinden, wenn Zeit, wie Dell (1990, 40) sagt, quasi gestattet ist. Wenn Zeit hingegen nur eine bedeutungslose Koordinate ist, erscheint Selbstreferenzialität als Paradoxon (wie z.B. in dem Satz von Xenon, dem lügenden Kreter). Dann könnte - in der Psychotherapie - alles, was zu geschehen hat, ebenso sofort erfolgen. Wenn die Klientin den von der Therapeutin als richtig und notwendig erachteten Schritt nicht sogleich vollzieht, bedarf dies einer Erklärung. Übliche Erklärungen sind: "Widerstand!", "Krankheitsgewinn!", "Rückfall!", "Motivationsmangel!". Diese Erklärungen enthalten Schuldzuschreibungen und eine implizite Gegnerschaft, die ich Ent-Gegnung nenne. Folge kann sein, dass die Therapeutin List, Macht, Druck oder ein Mehr-Desselben einsetzt oder - nach gehäuften Misserfolgen - resigniert.
Zeit, als wesentliche Systemzeit verstanden, heißt, der Selbstorganisation, der inneren Entfaltungslogik des Heilungsprozesses zu vertrauen, Abfolgen, Rhythmen, Muster zu betrachten, Rückschritte und -fälle als Phänomene der eigenen Standortbindung zu interpretieren und als sinnvoll und bedeutsam zu verstehen.
(c) Weisheit, Mächtigkeit, Behutsamkeit
Die dialektisch-transzendente Betrachtungsweise wendet sich gegen das herrschende Paradigma des Wissenden, welches auch manchmal verschleiert, als asymptotische Wahrheitstheorie, in Erscheinung tritt. Der Glaube daran, ein Wissender zu sein, ist schwer zu lösen, vielleicht umso schwerer, je weniger greifbar der wissenschaftliche Gegenstand ist. Der Wissensanspruch ist gleich, ob man nun dem medizinischen oder dem sozialwissenschaftlichen Krankheitsmodell verpflichtet ist. Diese unterscheiden sich lediglich in der Lokalisation der als ursächlich erkannten Faktoren. Aus dem Wissensanspruch, der dem Arzt oder Therapeuten vom Patienten meist nahe gelegt wird, leiten sich die vorgebliche Kompetenz und Macht des Behandelns her. Der Behandler ist derjenige, der weiß, handelt, heilt, verantwortet. Er repräsentiert die objektiv richtige Methode; alles Persönliche, die einzigartige Beziehung beider ist unwichtig, ja störend und wird als mögliche Fehlerquelle eliminiert. Daraus leitet sich schließlich die Haltung des Interventionismus ab: Die Neigung einzugreifen, zu manipulieren, einen Prozess zu beenden, wird meines Erachtens umso stärker, je weniger ein erwünschter Schritt erfolgt oder je mehr Zeit ein Prozess benötigt. Die Therapeutin als Wissende und Macherin produziert tendenziell eine dumme und hilflose Klientin, eine therapeutische Nebenwirkung, die wir nicht wollen, vielleicht auch wirklich nicht fühlen, die aber dennoch hintergründig ihr Gift entwickelt. Zudem ist zu vermuten, dass manche therapeutischen Übergriffe sexueller oder gewaltsam-verletzender Art das verzweifelte Korrelat des Intervenieren-Müssens sind, eine zunehmend höhere Dosierung der therapeutischen Gabe. Interventionen können als schädlich oder zumindest als störend verdächtigt werden, sofern sie auf dem Boden dieses Wissen-, Intervenieren- und Erfolghaben-Müssens entstanden sind (vgl. Batesons Diskussion von Ad-hoc-Eingriffen (1983, 627) sowie das Experiment Tana-Land (Krohn & Küppers 1990, 124; Dell 1990,31 f.).
Was bleibt aber dem Psychotherapeuten, wenn er auf das letzte bisschen Wissen auch noch verzichten muss? Er weiß kaum, was der Klient hat, geschweige denn, warum er es hat und ob und, wenn ja, wie er was für wen und in welche Richtung verändern kann und soll.
Ich möchte als ethische Maxime die Haltung der „Unschärfe“ mit den Aspekten der Weisheit, der Mächtigkeit und der Behutsamkeit vorschlagen. Weisheit ist das Wissen darum, dass stets jenseits jeder meiner Erkenntnisse eine umfassendere, komplexere, vollständigere, bedeutsamere, wahrere Erkenntnis möglich wäre, wäre meine Erkenntnisfähigkeit nicht a priori begrenzt (vgl. Bateson 1983, 563. Diese nicht-wissende Weisheit ist ständiger Motor einer therapeutischen Neugier, deren Mittel das Fragen ist und die der Therapeutin hilft, mit der Klientin in Verbindung zu bleiben. Die Illusion des Wissens hingegen macht träge und führt eher zu Machtkämpfen als zu weiterer Suche.
Macht wurde vielfach als epistemologischer Irrtum oder Mythos (z.B. Bateson 1987, 272) bzw. als Metapher (vgl. Portele & Roessler 1994, 9) hingestellt. Diese Ansicht ist meiner Meinung nach zwar zutreffend, aber unvollständig und deshalb gefährlich. Sie führt dazu, dass man Macht und Machtmissbrauch nicht wirklich dingfest machen kann; denn Macht ist, sobald sie - auch als Negation - gedacht wird, nicht nur wirklich (W), sondern auch real (R); sie ist eine Tat-Sache. Es kann keine epistemologischen Fehler geben, weil eine erkenntnistheoretische Position in dem Moment, in dem sie von jemandem eingenommen wird, ja existiert. Ich kann das Phänomen Macht nicht erkenntnistheoretisch widerlegen; ich kann aber, und dafür plädiere ich, gegen die Macht als einen ethischen Irrtum persönlich Stellung beziehen. Eine Ethik in der Psychotherapie sollte sich also nicht darauf beschränken, "Kataloge" von indizierten Verhaltensweisen zu erstellen; ethisches Verhalten ist zwangsläufig eine persönliche Entscheidung.
Für die Therapie möchte ich dem ethischen Standpunkt Macht den der Mächtigkeit entgegenstellen: Mächtigkeit ist das Bewusstsein, mit seinem Handeln nicht notwendigerweise das Beabsichtigte und mit Sicherheit mehr als dieses hervorzubringen. Das bedeutet, dass uns die Effekte unseres Tun zu einem großen Teil unbekannt sind. Die Therapeutin hat etwas zu verantworten, was ihr nicht vor Augen ist. Dies ist eine ungeheuerliche therapeutische Konsequenz, aus welcher nur die Maxime der Behutsamkeit oder Zurückhaltung folgen kann (vgl. auch das taoistische Wu wei, übersetzt etwa handelndes Nichthandeln; Portele 1992, 54). Meines Erachtens ist diese therapeutische Fähigkeit, nicht sofort zu reagieren und Lösungen anzubieten, am schwierigsten zu erlernen.
(d) Die Haltung des Sowohl-als-Auch
Ich bin immer wieder erstaunt, wie genau Menschen, und ganz besonders Klienten in Krisensituationen, in der Lage sind, Kernbotschaften zu entschlüsseln, also zwischen den Zeilen das eigentlich Gemeinte herauszuhören. Die zentrale Botschaft des "wissenden" Therapeuten besteht immer mehr oder weniger in dem Aufweis, häufig auch dem Vorwurf, der Klient habe etwas falsch gemacht, da er ansonsten das betreffende Problem nicht hätte. Die wesentliche Aussage des Radikalen Konstruktivisten dem Klienten gegenüber ist mehr oder weniger zynisch: "Du konstruierst dir dein Leiden selbst! - Also hör auf damit!" Oder: "Stell dich nicht so an!" Hierzu gehört in diesem Falle auch die orthodoxe Psychoanalytikerin, die den berichteten Inzest für die Ausgeburt der kindlichen sexuellen Wünsche und Phantasien ansieht und der Klientin vermittelt: "Ich glaube dir nicht!" oder ihm gar Schuld zuschreibt. Für die dialektisch ausgerichtete Therapeutin hingegen ist der Bericht der Klientin immer sowohl eine wirkliche Konstruktion als auch ein reales Geschehen. Ihre grundlegende Haltung zur Klientin lautet in etwa: "Ich vertraue dir, dass dein Erleben real ist, also eine Tat-Sache (R); mit der gleichen Überzeugung vertraue ich darauf, dass dein Erleben deine Kreation (W) ist, dass du mächtig bist, diese und die Welt zu verändern." Diese Grundbotschaft ist demnach sowohl akzeptierend-nachvollziehend als auch hoffnungsvoll.
Bezogen auf ein Gesundheits-/ Krankheitsmodell kann die Sowohl-als-Auch-Haltung wie folgt beschrieben werden: Krankheit ist nicht nur ein reales Geschehen (welches wie ein unbeeinflussbares Schicksal über einen kommt); sie ist auch nicht nur, wie die Radikalen Konstruktivisten behaupten, "... ein soziales Phänomen, das durch 'Leben in der Sprache' entsteht" (Maturana in: Riegas & Vetter 1991, 29), also ein beliebiges, fleischloses Konstrukt. Krankheit besitzt vielmehr sowohl R- als auch W-Aspekte, die sich mit zunehmender Chronifizierung immer mehr ineinander verschachteln. Der W-Aspekt einer Krankheit besteht in der persönlichen und sozialen Bewertung, in der Angst vor dem Ver-rückt-, sprich: Ausgesondert-Werden, in der Isolation. Dieser Aspekt des Leids beruht auf einem Zuviel an Ent-Gegnung und einem Zuwenig an Begegnung. Diesen Aspekt nenne ich das Leiden-am-Du. Das Leiden-an-Sich findet sich demgegenüber jenseits des Sozialen, Gemachten, Konstruierten: Es existiert in den existenziellen Aporien des Menschseins, dem Schmerz, der Angst, dem Alleinsein, der Endlichkeit. Leiden-an-Sich ist nicht fassbar, dennoch hautnah, elementar, wesentlich. Beide Aspekte des Leids sind immer miteinander gegeben und falten sich mit zunehmender Leidenszeit in eine Geschichte und viele Schichten des Leidens auf.
Aus einer solchen Perspektive ist im Grunde auch ein Neurosenmodell verzichtbar; denn "Neurose" besagt ja immer so etwas wie eine Fehler- und/ oder Schuldzuschreibung, welche auf dem erkenntnistheoretisch nicht haltbaren Wissens- und Interventionsparadigma fußt. An seine Stelle könnte die Bergsteiger-Metapher treten, die ich mehrfach beschrieben habe (Mehrgardt 1994, 300, 1996, 37 ff.).
(e) Freiheit
In der psychotherapeutischen Literatur wird die Beschränkung von Freiheitsgraden häufig als grundlegend für die Entwicklung von Pathologie angesehen, beispielsweise in Form eines Blockiertseins, einer Fixierung, einer zu starren Struktur, einer zu großen Tendenz zur Vereinfachung, eines Zuviel an Homöostase (usw.). Es liegt dann auf der Hand, die Erweiterung von Freiheitsgraden als allgemeines Therapieziel zu bestimmen. Dieser Denkweise ist beispielsweise von Foerster verpflichtet, der auf die systemischen Ansätze, aber auch auf die Gestalttherapie Einfluss hat. Von Foerster formuliert nämlich den ethischen Imperativ: "Handle stets so, daß weitere Möglichkeiten entstehen." (1990, 60). Mit dieser Maxime fordert von Foerster jedoch gleichsam auf, "in der Schwebe" zu bleiben, sich nicht festzulegen, sich nur frei zu machen von, aber nicht für etwas oder jemanden. Es fehlt die Antithese, etwa: "..., um dann eine Möglichkeit auszuwählen, deren Beschränkung du dich dann hingibst." Ich nenne dies die Freiheit von und für (vgl. Zillig 1992, 184). Es reicht also nicht aus, Krankheit als eine Einschränkung und die heilende Therapie dann als eine Erweiterung von Freiheitsgraden zu verstehen. Das Prinzip der Freiheit besagt für die Therapie eher: Der Therapeut hat die Aufgabe, Handlungsspielräume zu eröffnen und diese mit Gegen-Ständen und Wider-Stehendem zu füllen. Mit seinen (wechselnden) Standpunkten, die der Therapeut im physischen wie im übertragenen Sinne einnimmt, ver-antwortet er dem Klienten.

Selbst und Selbstlosigkeit - Ost und West im Spiegel ihrer Selbsttheorien
Michael & Eva-Marie Mehrgardt
Edition Humanistische Psychologie
Veröffentlichungen - Bücher - Textauszug aus "Selbst und Selbstlosigkeit - Ost und West im Spiegel ihrer Selbsttheorien" von Michael & Eva-Marie Mehrgardt, Edition Humanistische Psychologie
- EINLEITUNG
„Verliere dich wie ein Elefant im Wald ...
... ein Fisch im Wasser und ein Vogel im Himmel.“
Dieser mündlich überlieferte Satz aus den Upanishaden, einem alten indischen Text, fordert auf zur Hingabe an einen offenen Raum zwecks Überschreitung eigener Begrenzungen und Interessen. Der Elefant im Wald löst sich nicht auf, er verschwindet nicht; er verliert sich aber insofern, als seine Konturen unscharf werden. Er unterscheidet sich nicht so prägnant von seiner Umgebung; er wird mit ihr eins; er verliert sich und findet sich im Ganzen wieder.
Die Menschen des westlichen Kulturkreises hingegen sind stets bestrebt, sich abzuheben, herauszuragen, einen Unterschied zwischen sich und den Anderen zu bringen. Sie begegnen sich – oder besser: treffen aufeinander: abgegrenzt, getrennt, unnachgiebig – als „Identitäten“: Jeder ist eins nur mit sich selbst, nie mit dem Gegenüber. Emanzipation (emanzipiert laut Duden = frei, ungebunden, entfraulicht!), Selbstverwirklichung und das Perls’sche „Ich-bin-ich-und-du-bist-du“ sind nichts als euphemistische Etikettierungen des heutigen Homo solus, des einsamen Steppenwolfes. Jeden zweiten Satz beginnt dieser mit einem „Ja, aber“, mit einer Entgegnung also – oder besser: einer Ent-Gegnung. Eine Ent-Gegnung aber kann nur kläglicher Ersatz für die lebensnotwendige Begegnung sein. Die Ent-Gegnung entwertet, vernichtet, wehrt ab, verunsichert, spaltet dort, wo Begegnung: Aufnahme, Resonanz, Bejahung, Vielfalt dem Leben förderlich gewesen wäre. Eine Ent-Gegnung ist vorenthaltene Begegnung.
Nicht nur der Mensch ist sich und dem Anderen eine derart verhärtete Leibniz’sche „fensterlose Monade“. Auch Dinge, Ideen, Theorien, Erkenntnisse zielen auf das Ideal der „Härte der Tatsachen“ oder dem „harter Fakten“. Wahrheit ist – nach Elias Canetti – ein Fels: hart und unnachgiebig. Wir schlagen uns an Wahrheiten und am Anderen „immerzu den Kopf blutig“.
So ist es nicht verwunderlich, dass eine der Grunddimensionen des menschlichen Leids in der Erfahrung besteht, anders zu sein, ver-rückt von jeder Zugehörigkeit, nicht normal. Und es kommt hinzu, dass die heute gemäß den Psychotherapie- (Hin-?) Richtlinien anerkannten Verfahren allesamt dem Behandler-Paradigma zuzurechnen sind: Ihre Aufgabe ist es, den Leidenden, nett ausgedrückt: zu reintegrieren, weniger nett gesagt: wieder an das felsenharte Joch der gesellschaftlichen „Wahrheiten“ zu gewöhnen. Den Wahrheiten der Symptome wird auf diese Weise effektiv ent-gegnet, ihnen wird ihre Existenzberechtigung abgesprochen.
Vereinsamung, Depressionen, Ängste und Soziophobien, Dis-Soziationen, Stresskrankheiten, Delinquenz, Perversionen, Scheidungen: all dies erscheint aus dieser Sicht nicht als defizitäre Neurose oder fixierte Objektbesetzung, sondern enthüllt sich auch in seiner Funktion als Fluchtversuch vor der Gefahr „Mensch“. Homo homini lupus, wobei gilt, dass der Mensch nicht nur dem Anderen, sondern auch sich selbst zunehmend zum Wolf wird. Nicht Beziehungsunfähigkeit, nicht neurotische Libidofixierung, nicht Kontaktunterbrechung, nicht dysfunktionale kognitive Verarbeitung: Nein, der Mensch schützt sich mehr und mehr vor der realen Gefahr „Kontakt“; gefährlich, weil dieser in seinen Ent-Gegnungen immer mehr das soziale Gift gegenseitigen In-Frage-Stellens und Verneinens injiziert und immer weniger das humane Geschenk gegenseitigen Ver-Antwortens und Bejahens bereithält.
Und so sind die Leiden des postmodernen Menschen: Vereinzelung, Verlust traditioneller Werte und Zugehörigkeiten, Mobilisierung, Überflutung durch formale, bedeutungsleere Information, Zunahme von Gewalt und totalitären Ideologien, so sind alle diese Leiden nicht nur Symptome, die es durch ein Mehr derselben Anstrengungen zu beheben (oder gar durch „moralische Umstrukturierungen“ zu feiern!) gilt; sie verweisen vielmehr auf eine Notwendigkeit, und zwar – mit Nietzsche gesprochen – auf die Notwendigkeit, Standbilder umzustürzen, Götzen bloßzustellen, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, an Grundpfeilern zu rütteln.
Wir Autoren – Eva-Maria Mehrgardt, die Malerin, beheimatet irgendwo zwischen Holland, Flensburg, Indien und dem Buddhismus; Michael Mehrgardt, der Psychotherapeut im Spagat zwischen Kassenpraxis, westlicher Philosophie, Lübeck und Gestalttherapie – fühlen uns genügend randständig: genügend zugehörig einerseits und doch andererseits befremdet genug, um dies zu tun. Das, was entscheidend unser Umgehen mit uns selbst, mit den Anderen, mit der Umwelt, mit den Mitgeschöpfen und auch mit unserer Historie und unserer Zukunft prägt, was somit die gesamte Atmosphäre des Miteinander-in-der-Welt-Seins ausmacht: unser Selbst-Verständnis also, wollen wir gründlich, d.h. auf den Grund gehend und auch zugrunde gehend, untersuchen.
Um das westliche Selbstbild zu ergründen, werden wir im folgenden Kapitel die von ihm hervorgebrachten Selbsttheorien studieren. Uns geht es dabei weniger um detaillierte Darstellungen der verschiedenen Theorien und ihrer „Grabenk(r)ämpfe“, zumal diese – wie wir sehen werden – recht unwesentlicher Natur sind. Vielmehr wollen wir deren gemeinsame Plattform beleuchten. Die Prämissen, welche das Fundament der westlichen Plattform bilden, unterziehen wir im dritten Kapitel einer fundamentalen Kritik, einer Kritik, welche diese Plattform als bedingend für einige der grundlegendsten gesellschaftlichen Aporien entlarven wird.
Um diese sozialen Sackgassen überwinden zu können, benötigen wir Entwürfe des Selbst, welche seine pathogenen Dis-Soziationen heilen. Wir wollen ein Gebiet betreten, welches zuvor entweder nicht vorhanden oder nur formal – durch Regeln und Konventionen – erfüllt war oder nur als Schlachtfeld gedient hatte: das Zwischen.
Auch in unserer Kultur gibt es Ansätze, die sich diesem Zwischen widmen. Beispielhaft werden wir anführen: Hermann Schmitz‘ Neue Phänomenologie, die Archetypen Carl Gustav Jungs und schließlich Ken Wilbers Stufen des Selbst.
Damit treten wir in einen Dialog mit dem östlichen Gedankengut ein, den wir dringend benötigen, sozusagen als geistiges Bewässerungsprojekt für das Ödland des brachliegenden transzendenten Selbst des Westens.
Im vierten Kapitel geben wir einen Überblick über die buddhistischen Selbstlosigkeitstheorien, deren zentrales Theorem – die Leere von inhärentem (= an etwas haftend, ihm innewohnend) Bestehen – aus den Perspektiven verschiedener Schulen und Fragestellungen beleuchtet wird. Wir werden hier einen kleinen Einblick bekommen in die wissenschaftliche Akkuratesse eines Philosophierens, in dem Religiosität, persönliche Erfahrung und analytischer Geist eine Einheit bilden.
Im fünften Kapitel versuchen wir uns in einer dialektischen Meta-Theorie des Selbst, welches in Annäherung des westlichen an östliches Denken als „unscharf“ gekennzeichnet wird, ähnlich unscharf und unprägnant wie der erwähnte Elefant im Wald. Hier werden handlungsleitende Maximen formuliert, die als grundlegende Anweisungen für den individuellen wie kulturellen Dialog gelten können, u.a. die Maximen der Offenheit und der Behutsamkeit: „Du hast eine Tat in die Welt geschickt, und wie die Kreise eines in den Teich geworfenen Steines sich weiter und weiter verbreiten, so die Folgen deiner Tat, du kannst nicht wissen, wie weit.“ (Kipling).
Das sechste und – vorläufig - letzte Kapitel unseres Dialoges zeigt eine mögliche Annäherung aus östlicher Sicht auf, deren Sprache der Offenheit auf eine grundlegende Bedingung des fruchtbaren Dialoges hinausläuft, nämlich: sich selbst ganz in Frage zu stellen und in der Fremde aufzufangen.
Liste aller Veröffentlichungen
Veröffentlichungen - Liste aller Veröffentlichungen
- Mehrgardt, M. (1990): Organisationsmodelle therapeutischer Hilfen - Zielgruppenorientiert im Rahmen des § 72 BSHG", in: Gefährdetenhilfe 4, S.113-114
- Mehrgardt, M. (1992): Drogenarbeit in der Sackgasse – eine Streitschrift. Sucht 3, 186-192.
- Mehrgardt, M. (1994): Erkenntnistheoretische Grundlegung der Gestalttherapie. Münster/ Hamburg (Lit). (Bestellungen nur bei M. Mehrgardt)
- Mehrgardt, M. (1995 a): Erkenntnistheorie und Gestalttherapie. Eine dialektische Erkenntnistheorie als Grundlage der Gestalttherapie. Gestalttherapie 2, 20-35.
- Mehrgardt, M. (1995 b): Buchbesprechung: Gerhard Heik Portele, Kirsten Roessler: Macht und Psychotherapie. Ein Dialog. Gestalttherapie 1, 105-107.
- Mehrgardt, M. (1996): Erkenntnistheorie und Gestalttherapie. Teil 2: Modelle und Maximen gestalttherapeutischen Handelns. Gestalttherapie 2, 25-41.
- Mehrgardt, M. (1997): Erkenntnistheorie und Gestalttherapie. Teil 3: Erkenntniskritik gestalttherapeutischer Konzepte. Gestalttherapie 1, 26-42.
- Mehrgardt, M. (1999 a): Erkenntnistheoretische Fundierung der Gestalttherapie. In: Fuhr, R., Sreckovic, M. & Gremmler-Fuhr, M. (Hg) (1999): Handbuch der Gestalttherapie. Göttingen (Hogrefe), 485-511.
- Mehrgardt, M. (1999 b): Von der Pathogenese des Lehrerseins – Beobachtungen aus der Psychotherapie mit Lehrern. Zeitschrift für Erziehung und Wissenschaft in Schleswig-Holstein, 12, 15-18.
- Mehrgardt, M. (2000): Visionen eines wieder gelassenen Psychologen – eine Farce? Kurzfassung: Deutsches Ärzteblatt vom 28.08.2000, 507-508. Ungekürzt: Gestalttherapie 1, 2000, 65 – 69. Und: Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis 3, 2000, 531-533.
- Mehrgardt, M. (2001): Homo Solus - Doxa und Paradoxa des kulturellen Selbstverständnisses. Gestalttherapie, 1, 3-25.
- Mehrgardt, M. & Mehrgardt, E. (2001): Selbst und Selbstlosigkeit – Ost und West im Spiegel ihrer Selbsttheorien. Köln (EHP).
- Mehrgardt, M. (2002): Diagnose LehrerIn – oder: Der schiefe Turm von PISA. Zeitschrift für Erziehung und Wissenschaft in Schleswig-Holstein, 9, 9-14.
- Mehrgardt, M. (2003): Erziehung zur Gewalt – oder: Waffen in Schulen und Kindergärten! Zeitschrift für Erziehung und Wissenschaft in Schleswig-Holstein, 5, 9-13.
- Mehrgardt, M. (2004): Der Philosophische Hintergrund der Gestalttherapie. Gestalttherapie, 1, 3-22.
- Mehrgardt, M. (2005): SINNe – eine Collage von SINN, Feld, Gestalt und zwei Erzählungen – eine gestalttherapeutische Perspektive. In: Petzold, H. G. & Orth, I. (Hg.) (2005): Sinn, Sinnerfahrung, Lebenssinn in Psychologie und Psychotherapie. Band II. Bielefeld (Edition Sirius), 607-642.
- Mehrgardt, M. (2005): Massenmensch LehrerIn. Zeitschrift für Erziehung und Wissenschaft in Schleswig-Holstein, 7/8, 13-15.
- Mehrgardt, M. (2005): Dialectic Constructivism. International Gestalt Journal, 28 (2), 31-65.
- Mehrgardt, M. (2006): Und Ischa knurrte … Eine Collage von SINN, Feld und Gestalt mit drei Erzählungen (Teil 1). Gestalttherapie, 1, 98-118.
- Mehrgardt, M. (2006): Und Ischa knurrte … Eine Collage von SINN, Feld und Gestalt mit drei Erzählungen (Teil 2). Gestalttherapie, 2, 63-73.
- Mehrgardt, M. (2007): Die therapeutische Unschärferelation. In: Gegenfurtner, N. & Fresser-Kuby, R. (Hg.): Emotionen im Fokus. Bergisch Gladbach (Edition Humanistische Psychologie), 240-272.
- Mehrgardt, M. (2011): Überleben in der Schule. Ein Beitrag aus psychotherapeutischer Sicht. Zeitschrift für Erziehung und Wissenschaft in Schleswig-Holstein, 5, 6-10.
- Mehrgardt, M. (2017 a): Gezähmter zahnloser Tiger. Ein Kommentar zu Psychotherapie und Gesellschaft. Deutsches Ärzteblatt, PP, 2, 74.
- Mehrgardt, M. (2017 b): Der Mensch hinter der Diagnose. Deutsches Ärzteblatt, PP, 5, 215-216.
- Mehrgardt, M. (2017 c): Lehrkräfte sind schwierig. Zeitschrift für Erziehung und Wissenschaft in Schleswig-Holstein, 11, 18.
- Mehrgardt, M. (2017 d): Zweifel und Erkenntnis. Deutsches Ärzteblatt, PP, 11, 528.
- Mehrgardt, M. (2018): Persönliche Stellungnahme nötig. Leserbrief zu „Interview mit Dr. phil. Hans Lieb“ in: 8/2018. Deutsches Ärzteblatt, PP, 10, 462.
- Mehrgardt, M. (2020): Psychotherapie mit Lehrern. Deutsches Ärzteblatt/ PP, 2, 66-67.
- Mehrgardt, M. & Mehrgardt, Malte (2020 a): Das Fremde, das Andere, das Du – ein Spaziergang (Teil 1). Aufklärung und Kritik, 3, 58-70
- Mehrgardt, M. & Mehrgardt, Malte (2020 b): Das Fremde, das Andere, das Du – ein Spaziergang (Teil 2). Aufklärung und Kritik, 4, 89-102
Michael Mehrgardt
Die therapeutische Unschärfe-Relation[1]
Dieser Artikel ist ein Plädoyer für eine therapeutische „Unschärfe“-Relation. Ich verwende diesen Terminus, um (a) mit Heisenberg ein „Nicht-genau-Wissen“ zu bezeichnen statt des in der herrschenden Psychotherapie üblichen und wenig fundierten „Paradigmas des Wissenden“ und um (b) mich gegen eine therapeutische Schärfe zu wenden, die sich im Sinne von Verletzung, Verantwortungs- und Schuldzuschreibung sowie Diskriminierung der Patientinnen[2] durch die Therapeuten in die Richtlinienpsychotherapie eingeschlichen zu haben scheint.
Dieses Plädoyer gründet auf fünf kritischen Thesen bezüglich des Auftretens und der Hintergründe einer solchen „scharfen“ Beziehungsgestaltung im Rahmen der gegenwärtigen Richtlinienpsychotherapie. Anschließend werde ich meinen Dialektischen Konstruktivismus auszugsweise darstellen, eine erkenntnistheoretisch-ethische Grundlegung der (Gestalt-) Psychotherapie.
Mit diesem Artikel verfolge ich die Ziele, (a) einen kritischen Diskurs über die Konnotationen der gegenwärtigen Mainstream-Psychotherapie anzustoßen, (b) eine explizite Philosophie (wieder) als eine unverzichtbare Grundlage der akademischen (vorwiegend empirischen) Psychotherapie zu rehabilitieren und (c) in dem in diesem Tagungsband vorliegenden Zusammenhang eine Diskussion darüber anzuregen, ob und wie weit meine erkenntnistheoretisch-ethische Fundierung eine philosophische Grundlage auch der Forschungen und Ergebnisse Greenbergs und seiner Mitarbeiter darstellen kann bzw. ob seine Begriffe der dialektischen Konstruktion und der dialektisch-konstruktivistischen Epistemologie (Greenberg et al. 2003, 96 ff.) mit meinem Dialektischen Konstruktivismus kompatibel sind (vgl. dazu den Beitrag von Gegenfurtner in diesem Band).
Die Wiedereinführung einer expliziten Philosophie, insbesondere Erkenntnistheorie und Ethik, ist auch deshalb vonnöten, weil die gegenwärtige Mainstream-Psychotherapie sich ja nicht wirklich „frei“ von (philosophischen) Ideologien gemacht hat, sondern zwangsläufig auf impliziten, d. h. verborgenen oder gar heimlichen und damit schädlichen Grundhaltungen und –aussagen fußt. Auch wenn ich in dieser Arbeit deutliche Kritik an der gegenwärtigen empirischen Forschung erhebe, spreche ich mich nicht gegen Empirie aus; vielmehr ist meine Hoffnung, dass ein neuer Dialog zwischen philosophischen und empirischen Perspektiven entsteht mit dem Ergebnis, dass beide einander Korrektiv und auch Bereicherung sein mögen. Und so zeigen ja der Greenberg’sche Forschungsansatz und auch die Untersuchung Teschkes über existentielle Momente in der Therapie (1996) positive Wege einer Forschung auf, die nicht in einem angeblich wertfreien Niemandsland stattfindet und die nicht zwangsläufig einer mechanisch-kalten Empirie verpflichtet sein muss.
Eine weitere Bedeutung einer erkenntnistheoretisch-ethischen Grundlegung besteht speziell für die Gestalttherapie darin, ihre theoretischen Konstrukte widerspruchsfreier gestalten zu können. Auf diesen Aspekt gehe ich in dieser Arbeit nur am Rande ein.
1. Die gegenwärtige Psychotherapie ist gekennzeichnet durch Schärfe.
„Dann kehrten die Namen in die Es-Sprache ein; immer stärker trieb es die Menschen, ihr ewiges Du als ein Es zu bedenken und zu bereden.“ (Buber 1953, 5)
Ich werde im Folgenden Äußerungen von Psychotherapeuten zitieren, von denen mir berichtet wurde, die ich in Super- und Intervisionen sowie in therapeutischen Interaktionen direkt erlebt, in meinen Therapie-Aus- und Weiterbildungen selbst erfahren oder in Vorträgen und beim Literaturstudium rezipiert habe. Es sind keine therapeutischen Interventionen, welche als unethisch auf den ersten Blick zu brandmarken wären, sondern – schlimmer noch – es sind alltägliche, meist als hilfreich und wohlmeinend intendierte Äußerungen. Es reicht hier nicht, sich mit einem Hinweis auf die „dysfunktionale kognitive Verarbeitung“ oder auf „Übertragung“ oder auf „paranoide Projektion der Klientin“ aus der Verantwortung zu stehlen; vielmehr sind es, so behaupte ich, implizite Konnotationen eines maroden Psychotherapie-Gebäudes, welches seine Fundamente verloren hat. Wichtig wäre es aber, sich des philosophischen Untergrundes wieder zu versichern, auf welchem Psychotherapie zwangsläufig stattfindet. Ich möchte eine Sensibilisierung dafür bewirken, dass sich therapeutische Grundhaltungen, auch wenn sie implizit bestehen, in den Empfängern unserer Botschaften manifestieren, und das nicht immer in positiver Weise.
Hier folgen nun die Therapeuten-Äußerungen aus verschiedenen Therapieschulen:
- Du wolltest doch auf den heißen Stuhl! (Gestalt);
- Sie haben eine Borderline-Störung, Sie sollten nicht mehr mit Menschen arbeiten! (an einen Erzieher mit anthroposophisch gefärbter Sprache, psychosomatische Klinik);
- Du bist ja völlig gepanzert! (Körpertherapie);
- Sie haben Panikattacken, weil Sie Angstsituationen vermeiden (VT);
- Ihr Kind symptomatisiert Ihre Konflikte (Familientherapie);
- Ich spüre doch, dass du in Wirklichkeit aggressiv bist! (Tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie/ Gestalt);
- Suchen Sie bei sich selbst! (zu einer Klientin, die erstmals Wut auf den Vater äußert, der sie sexuell missbraucht hat, Psychiatrie);
- Das ist eine Projektion/ eine Übertragung! (Gestalt/ Psychoanalyse);
- Sie werden Ihre Depressionen niemals los, wenn Sie bei Ihrer Frau bleiben! (Tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie);
- Natürlich haben Sie sexuelle Probleme – sonst hätten Sie ja einen Mann! (Psychosomatische Klinik);
- Liebesbeziehungen der Patienten untereinander sind Therapievermeidung! (Alkohol-Entwöhnungs-Klinik) usw.
Auch die Fachliteratur ist voll von scharfen Äußerungen über bestimmte Klientengruppen. Über die narzisstische Persönlichkeit schreibt bspw. Marie-France Hirigoyen: „... hat eine großartige Meinung von ihrer eigenen Bedeutung ... beutet in zwischenmenschlichen Beziehungen den anderen aus ... es fehlt ihr an Empathie ... überhebliche Haltung ...“ (2003, 154). Otto Kernberg belegt sie mit Zuschreibungen wie: „... extrem egozentrische Einstellung und ein auffälliger Mangel an Einfühlung und Interesse für ihre Mitmenschen ... Fehlen echter Gefühle von Traurigkeit, Sehnsucht, Bedauern ...“ (1980, 263).
Sicherlich liegt die Schärfe solcher Äußerungen nicht allein und auch nicht in erster Linie in ihrer Wortwahl begründet; sie zeigt sich als solche dem Gegenüber wohl immer dann, wenn sie Ausdruck einer Grundhaltung und Be-Deutung des anderen ist.
Fänden Sie, liebe Leserinnen, solche an Sie gerichteten Bemerkungen hilfreich? Würden Sie diese nicht als gegen die eigene Person gerichtet empfinden statt als Hilfestellung? Muss nicht der Verdacht aufkommen, diese seien Ausdruck von Frustration, Hilflosigkeit, Unsicherheit des Therapeuten oder, wie Peter Fiedler formuliert: „... ‚Erklärungshilfe‘ für schwierige Therapieentwicklungen ...“ (2004, 8).
Wenn ich von „Schärfe“ der therapeutischen Relation spreche, meine ich dies in zweierlei Hinsicht: (a) Scharfe Interventionen verletzen, sprechen schuldig, werten ab, machen abhängig und ohnmächtig: „Du hast etwas falsch gemacht, und deshalb bist du krank geworden!“, sagen sie dem Klienten. Wenn sich schließlich Probleme im Therapieverlauf zeigen, werden die Klientinnen von manchen „... Therapeuten zunehmend als nicht einsichtig, widerständig bis feindselig beschrieben.“ So zitiert Fiedler den Psychoanalytiker Lothstein in dem genannten Artikel (2004, 10). (b) Scharfe Interventionen sind trennend und diskriminierend. Sie stellen einen Unterschied zwischen Therapeutin und Klient her. Die implizite Botschaft lautet etwa: „Du bist anders, verrückt. Du gehörst nicht zu uns, bist ausgeschlossen. Ich bin unerreichbar für dich!“ Solche Botschaften enthalten menschliche Begegnung vor; sie sind Ent-Gegnungen. Damit ist aber eine Grunddimension des Leidens angesprochen, die meines Erachtens in jedem physischen wie psychischen Leid aufscheint: die Angst vor oder das Erleben von sozialer Ausgrenzung (vgl. Mehrgardt 2001).
Wenn man sich solcher Schärfen und der damit verbundenen Verletzungen der Klientinnen bewusst wird, wenn man diese, und dazu neige ich, nicht nur als einzelne „Ausrutscher“, sondern als umfassende Manifestationen einer unbegründeten Psychotherapie-Kultur versteht, dann stellt sich angesichts der empirisch belegten Erfolge der Psychotherapie doch die Frage:
Funktioniert Psychotherapie vielleicht nicht wegen, sondern trotz der Psychotherapeuten?
2. Die gegenwärtige Psychotherapie betet zu einem Götzen namens „Akademische Empirie“.
„Das Denken in Kausalitätsreihen (wenn ... – dann ...) zeigt das ‚machenschaftliche Wesen‘ der Wissenschaft. Es ist ein Irrtum, mit dieser Methode je das Lebendige fassen zu können.“ (Hans J. Störig 1998, 620; nach Martin Heidegger, 1989, 147 ff.).
In seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ warnt Immanuel Kant davor, Gesetze der Sittlichkeit – und ich hoffe doch sehr, dass Psychotherapie und Sittlichkeit etwas miteinander zu tun haben! – allein empirischen Beispielen zu entlehnen: „Denn jedes Beispiel ... muss selbst zuvor nach Principien der Moralität beurtheilt werden ...“ (1968, S 408). Empirie ohne eine „... reine von allem Empirischen abgesonderte Vernunfterkenntniß ...“ bringt „...einen ekelhaften Mischmasch von zusammengestoppelten Beobachtungen und halbvernünftelnden Principien zum Vorschein, daran sich schale Köpfe laben, weil es doch etwas gar Brauchbares fürs alltägliche Geschwätz ist, wo Einsehende aber Verwirrung fühlen ... (ebd., 409).
Mit diesem Zitat trete ich nicht gegen das Fortbestehen einer akademischen Empirie an. Ich halte es aber für dringend geboten, ihrer Selbstverliebtheit Einhalt zu gebieten, ihr Kontrapunkte entgegenzustellen und ihren Heiligenschein zu demontieren. Empirische Forschung darf nun aber nicht als Ganze verdammt werden! Vielmehr geht es darum, die positive Chance, welche die Gestalt-Forschung bietet- und so auch die Greenbergs – zu ergreifen, ohne sie, wie es ihre elfenbeinerne Mainstram-Schwester offenbar erträumt, von allem Wesentlichen, Existenziellen und Philosophischen zu „befreien“.
Dazu folgende kleine Episode: Als ich einmal ich einem ICD-10-Übungsseminar am Ende bemängelte, ein solches System wie das ICD-10 sei zwar praktikabel, aber ihm fehle ein philosophischer Unterbau, der die Möglichkeit bereitstelle, seine unkontrollierte „Ontologisierung“ zu entdecken und nötigenfalls seine Selbstaufhebung zu bewirken, ereiferte sich einer der Urheber dieses Werkes sinngemäß: „Ich musste als Student noch Martin Heidegger hören und bin froh, dass die heutige Medizin von derartigem metaphysischen Ballast befreit ist. Da halte ich mich doch lieber“, und während er dies sagte, ließ er seine Linke sanft auf die blaue ICD-10-Ausgabe sinken, „an diese unsere Bibel.“ Dann, als er merkte, was er gesagt hatte, stockte er, sah mich an und lächelte. – In dem Moment haben wir uns verstanden.
Methodenimmanente Grundlagenprobleme der Statistik – Probleme der Skalenniveaus, der Gegenläufigkeit verschiedener Validitäten – will ich gar nicht ins Feld führen; ich billige jeder Herangehensweise ihre Unstimmigkeiten zu. Anmerken möchte ich aber, dass sich der „Geist“ des Kritischen Rationalismus Karl R. Poppers und Hans Alberts (1968), auf dessen erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Fundament sich akademische Empirie beruft, ins Gegenteil verkehrt zu haben scheint: von der ursprünglichen Falsifikationslogik hin zu einem mechanisch klappernden Verifizierungsbetrieb: Bestätigungen der Nullhypothese werden offensichtlich kaum publiziert!
Karl R. Poppers Intention war eine ganz andere gewesen (deren Scheitern er allerdings vorausgesehen hat): „Wir wissen nichts – das ist das Erste. Deshalb sollten wir sehr bescheiden sein – das ist das Zweite. Daß wir nicht behaupten zu wissen, wenn wir nicht wissen – das ist das Dritte. Das ist so ungefähr die Einstellung, die ich gerne popularisieren möchte. Es besteht wenig Aussicht dafür.“ (1999, 144)
Popper hat Recht, und so sieht sich dann auch Heiner Keupp genötigt, über die heutige Psychotherapie zu schreiben: „... auf der anderen Seite erfolgt eine Verbetriebswirtschaftlichung in Form von Modularisierung und Manualisierung. Diskurse über den gesellschaftlichen Stellenwert von Psychotherapie und ihre Menschenbilder sind fast verstummt.“ (2003, 4)
Überlassen wir die Psychotherapie allein diesem universitären Karrierespiel, werden wir sie an eine Disziplin verlieren, die sich nur noch Psychotechnik nennen dürfte.
Was also fehlt unserer modernen, unserer erstarrenden Richtlinien-Psychotherapie?
- Es fehlt ihr zum einen das Korrektiv durch die vielen erfahrenen Praktikerinnen „da draußen“, die in der Lage sind, die Lebenskontexte ihrer Klienten zu erfassen, die über einen riesigen Fundus an Berufs- und Lebenserfahrung verfügen. Deren Empirie gilt es gegenüber der akademischen zu rehabilitieren.
- Zum zweiten fehlt der Psychotherapie eine philosophische und anthropologische Fundierung. Ohne einen solchen Untergrund wuchert Theorienbildung, nur auf Statistiken beruhend, nahezu beliebig. Beide – Empirie und Philosophie – sollten stattdessen einander Korrektiv und Ansporn sein.
- Ich trete dafür ein, dass wir uns von dichotomen oder dualen (= scharfen) Unterscheidungen abwenden und uns dialektischen, „unscharfen“ Begriffsbildungen annähern. Dichotome Ansätze fußen auf diskreten „Wahr/ falsch“-Unterscheidungen und zielen darauf ab, Fehler auszumerzen; dialektische hingegen verstehen Wahrheit als relationalen (nicht: relativistischen!) Prozess und sehen als Kriterium der Wahrheit ihre Veränderlichkeit an. Ein „Fehler“ ist in dieser Sichtweise eine an einen persönlichen Standpunkt gebundene Bewertung und kein In-Abrede-Stellen von Wahrheit.
3. Das vorherrschende Wissens- und Behandlungsparadigma der Psychotherapie fußt auf Verifikations-Zirkularitäten.
„Zweifle nicht/ an dem/ der dir sagt/ er hat Angst// aber hab Angst/ vor dem/ der dir sagt/ er kennt keinen Zweifel!“ (Erich Fried 1974)
Ich weiß nicht, ob andere Kolleginnen ebenso wie ich an der eigenen Arbeit zweifeln; geäußert wird Zweifel jedenfalls viel zu selten. Vielmehr scheint zu gelten: Je komplexer der wissenschaftliche Gegenstand, desto dogmatischer die Aussagen der Fachleute. „Patientin X hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung.“ Äußerungen wie diese treten heutzutage als Feststellung und Faktum auf, nicht mehr als Hypothese, Konstrukt oder Frage. „G“ wie „gesichert“ lautet das Diagnosen-Suffix, mit welchem diese – in Abgrenzung von „V“ wie „Verdacht“ – neuerdings zu versehen ist. Die früher typische – und heuristisch wertvolle! – zweifelnde Psychologenhaltung („Es könnte so sein oder auch so oder vielleicht doch nicht ...?“) hat der Gleichschaltung durch den schulmedizinischen naiven Realismus („Es ist so und nicht anders!“) nicht standhalten können.
Dabei ist diese öffentlich akzeptierte Art des „Wissens“ hohles, luftleeres Geschwätz, welches nur durch Standesautorität zur Geltung kommt. Durch einfachste Mittel ist dieses selbstherrliche Gebäude der Psychomechanik zum Einsturz zu bringen, nämlich durch mehrmaliges Fragen: „Woher weiß ich/ weißt du das?“ Probieren Sie es aus, indem Sie eine beliebige Aussage über einen Ihrer Klienten treffen, z. B.: „Die Angst von Klientin X wird aufrechterhalten, weil sie Situation a meidet.“ – Woher weiß ich das? – „Das besagt die Lerntheorie.“ – Woher weiß ich, dass diese Lerntheorie in diesem Fall anwendbar ist? – „Weil die Angst ja schon gelöscht wäre, wenn die Klientin nicht vermieden hätte.“
Sie sehen: Es handelt sich hier um eine zirkuläre Begründung. Andere typische „letzte“ Antworten lauten etwa: „Das hab‘ ich gelesen.“ – „Das weiß doch jeder.“ – „Das ist eben so.“ – „Die Intervention X hat laut Studie Y eine Effektivität von z %.“ Ich habe gegen Zirkularitäten nichts Grundsätzliches einzuwenden; letzten Endes können wir diesem erkenntnistheoretischen Zirkel nicht entrinnen, nur: Wenn wir zirkuläre Aussagen mit einem Ausrufungszeichen versehen („Sie dürfen a nicht mehr vermeiden!“) statt mit einem Fragezeichen („Wird es uns weiterhelfen, wenn Sie Situation a nicht mehr vermeiden?“), laufen wir Gefahr, hypothesenwidrige Anzeichen nicht ernst zu nehmen und – theoriengerecht! – mit der Intervention fortzufahren.
Nehmen wir einmal an: Wir haben mit allen Mitteln (Intervisionen, Eigenanalysen, therapeutischen Beziehungsklärungen, theoretischen Erörterungen, Aufspüren verdeckter operants ...) versucht, das Scheitern abzuwenden, aber vergebens. Nun setzt die allen dogmatischen Gebilden inhärente Verifikations-Zirkularität ein. Dazu existieren in allen Anwendungen „Notfallkonstrukte“, die das Scheitern theorien- und therapeutenschonend „erklären“ und der Patientin (hier ist der Begriff der „Erleidenden“ leider zutreffend!) in die Schuhe schieben. Solche Falsifikations-Blocker sind Konstrukte wie: Motivation, Einsichtsfähigkeit, Widerstand, Vermeidung, Krankheitsgewinn, Körperpanzer, Kontaktunterbrechung und, wenn alles nicht hilft: Todestrieb. Würde man derartige Konstrukte durch eine erkenntnistheoretische Brille betrachten, müsste man feststellen, dass diese keinesfalls individuelle Vorgänge beschreiben können, sondern immer schon ein Gegenüber, also hier: die Therapeutin, implizieren und somit Beschreibungen von Dyaden sind. Einer solchen Interpretation werden jedoch weitere Konstrukte in den Weg gestellt: So bilden etwa Übertragung und Abstinenz Verteidigungswälle gegen die menschliche Einbeziehung des Therapeuten in das emotionale Geschehen mit der Klientin, vergleichbar der ehernen Prostituiertenregel, den Freier nicht auf den Mund zu küssen, um sich ja nicht in diesen zu verlieben. Mit diesen Tricks wird der Therapeut aber vollends zur Hure, indem er die Klientin zur emotionalen Befriedigung lockt, sich der menschlichen Begegnung dann aber verweigert.[3]
Jede Schule hat da ihr eigenes Repertoire zur Selbstbestätigung, und man bedient sich zu diesem Zweck auch gern einmal im „feindlichen Lager“. Peter Fiedler fügt diesem Arsenal noch eine weitere Abwehrwaffe gegen Infragestellung hinzu, nämlich das nachträgliche Diagnostizieren einer Persönlichkeitsstörung als „Erklärungshilfe“ (2004, 8).
Hätte der Psychotherapeut jedoch in solchen Situationen den Mut zum Zweifel und könnte er auf derartige Vernichtungsstrategien verzichten, so würden sicherlich in ihm andere, hilfreichere Motive auftauchen, nämlich „... Neugier als heuristisches, Behutsamkeit als pragmatisches und Staunen als ästhetisches Leitmotiv.“ (Mehrgardt/ Mehrgardt 2001, 201). Oder wie es zugleich banal und unvergesslich ein Drogentherapeut auf einem Kongress über Substitution ausdrückte: „Warum fragen wir nicht einfach die Junkies?!“
4. Die Psychotherapie leidet an einem zentralen Skotom für gesellschaftliche Missstände.
„Nicht rationalistische Maßstäbe, nicht religiöse Überzeugungen, nicht humane Regungen, sondern Bürgerinitiativen sind das Filter, das brauchbare von unbrauchbaren Ideen und Maßnahmen trennt.“ (Feyerabend 1980, 77)
Die Falsifikations-Blocker der Psychotherapien und die damit verbundene implizite Attribuierung der Schuld an Symptomgenese und Therapieversagen auf die Klientin verführt den Therapeuten allzu leicht dazu, das phänomenale Erleben der Klientin nur so weit zu würdigen, wie es Material für die Anwendung der eigenen Theorie liefert: Negative Kognitionen etwa oder psychodynamische Konflikte dürfen und sollen mitgeteilt werden und erfahren entsprechende therapeutische Anerkennung. Schweift der Klient jedoch ab, wird er mit sanftem Nachdruck zu Thema und Schema zurückgeführt.
Was aber Therapeutinnen selten als solches ernst zu nehmen scheinen, sind Klagen über äußere Belastungen. Diese Äußerungen werden als Beispiele fehlerhafter emotional-kognitiver Verarbeitung oder widerständiger Projektion aufgegriffen und therapeutisch verwertet. Kommen die Klienten jedoch von derartigen Schilderungen nicht recht los, laufen sie Gefahr, auf sich selbst zurückgeworfen zu werden: „Suchen Sie bei sich!“; „Was mag das wohl mit Ihnen zu tun haben?!“; „Können Sie sich vorstellen, welchen Anteil Sie selbst daran haben?“ Solche Therapeutenaussagen transportieren Desinteresse am Erleben des Klienten und an den Lasten, die er zu tragen hat. Nicht alle äußeren Belastungen lassen sich aber durch „funktionale Verarbeitung“ oder „Auflösung von Übertragungen“ einfach wegzaubern! Sehr deutlich wird diese Tendenz in der Literatur über Stress und Burnout bei Lehrern. Wenn überhaupt, werden schädliche äußere Faktoren zwar benannt; aber letztlich wird der einzelnen Lehrerin Schuld an der Entstehung und alleinige Verantwortung für die Beseitigung der Symptome zumindest implizit zugeschrieben, indem bspw. von Überengagement, Perfektionismus oder fehlender Stressbewältigungskompetenz die Rede ist (vgl. bspw. Gebauer 2000, Hagemann 2003).
Psychotherapie ist zum gesellschaftlichen Bewahrer geworden, zum Aufpasser und Anpasser. Statt auf Hippokrates und Sokrates müsste sie sich heute auf Prokrustes berufen, indem sie ihre Patientinnen auf den ihnen zugewiesenen Platz zurechtstutzt. Ist Psychotherapie nicht inzwischen tatsächlich jene Geständniswissenschaft geworden, die Michel Foucault (1998) beschwört?! Muss ihr nicht jene „Gesellschaftsvergessenheit“ angekreidet werden, die Keupp beklagt (2003, 4)?
Wo sind emanzipatorische, revolutionäre Ansätze geblieben? Wo werden Symptome noch als Protuberanzen an der Oberfläche (da wo die Kruste dünn ist) einer tief in der Gesellschaft stattfindenden Verwesung von Mitmenschlichkeit verstanden? Wo werden Klienten zur Ver-rückung erstarrter gesellschaftlicher Prinzipien ermutigt? Wo gibt es therapeutisch-politische Perspektiven auf das individuelle Symptom als Widerspiegelung gesellschaftlicher Aporien? Was ist mit emanzipatorischen Therapieansätzen wie der Gestalttherapie? Wer hat ihr den anarchistischen Zahn gezogen? So schrieb jüngst der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter: „Unter den therapeutischen Erfolgskriterien taucht der Begriff emanzipatorisch nicht mehr auf.“ (2004, 277)
Warum erheben die Psychotherapeutinnen nicht ihre Stimme gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen? Warum verbreiten sie stattdessen „Küchenpsychologie“ wie: „Psychologen haben herausgefunden, dass verheiratete Männer einen niedrigeren IQ haben als Singles.“?
Psychotherapie sollte randständig sein, um einen Blick auf den gesellschaftlichen Kontext individuellen Leids werfen zu können. In der Gestalttheorie heißt es, dass der (gesellschaftliche) Hintergrund die Figur (der individuellen Prozesse) be-deutet, d.h. mit Deutung versieht. Aus einer marginalen Perspektive, losgelöst von herrschenden Doxa im Sinne Bourdieus (1979), könnten wir dann vielleicht auch einiger Para-Doxa ansichtig werden, auf denen unser Sozialwesen zu ruhen scheint, z. B. des folgenden: Es ist neurotisch, in einer neurotischen Gesellschaft nicht neurotisch zu sein (vgl. Mehrgardt 2001). Khalil Gibran ist da viel weiser als wir Psychotherapeuten, wenn er den König seines durch den Genuss vergifteten Wassers verrückt gewordenen Volkes nunmehr auch aus dem kontaminierten Brunnen trinken lässt (1984, 20 f.).
5. „Erkennen ist der Königsweg zur Heilung.“ – Aber niemand weiß, was „Erkennen“ eigentlich ist!
„Was weiß man also vom Du? – Nur alles. Denn man weiß von ihm nichts Einzelnes mehr.“ (Buber 1962, 15)
Ist es nicht erstaunlich: Als Psychotherapeutinnen „erkennen“ wir täglich, indem wir Diagnosen erstellen, indem wir den nächsten Behandlungsschritt planen, indem wir den Therapie-Prozess evaluieren; wir „erkennen“ Ursachen, Zusammenhänge und Folgen, Übertragungen (und möglichst auch Gegenübertragungen!), Abwehrmechanismen, Körperpanzer, Kontaktunterbrechungen, Inkongruenzen, emotionale Blockaden, unbewusste Konflikte, Sinn, Wege, Ziele ... Sobald der Klient zum Erstgespräch den Raum betritt, „erkennen“ wir, dass er Psychotherapie benötigt oder jedenfalls benötigen würde, wenn er sie nur annehmen könnte; und lange Zeit vorher haben wir „erkannt“, dass Psychotherapie eine Lösung ist und nicht etwa das Problem; und wir haben „erkannt“, welche Therapie-Richtung die beste Lösung ist. Natürlich gibt es für alle diese „Erkenntnisse“ Argumente, aber auch Argumente müssen als Argumente für genau diese „Erkenntnis“ „erkannt“ werden.
Was aber ist Erkenntnis? Wie kommt sie zustande? Wodurch wird sie gültig oder wichtig oder wahr oder verantwortbar? Mit solchen Fragen beschäftigt sich die philosophische Disziplin der Erkenntnistheorie.
In der Mainstream-Psychotherapie jedoch gibt es keine Erkenntnistheorie!
Es gibt gerade noch Wissenschaftstheorie, die aber erstens an die akademischen Institute verwiesen worden ist und die zweitens jeden Bezug zur philosophischen Basis verloren hat. Dazu Jürgen Habermas: „Wo ... ein Begriff des Erkennens, der die geltende Wissenschaft transzendiert, überhaupt fehlt, resigniert Erkenntniskritik zur Wissenschaftstheorie; diese beschränkt sich auf die pseudonormative Regelung der etablierten Forschung.“ (1988, 12) Eine solche Wissenschaftstheorie ist nur noch eine „... vom philosophischen Gedanken verlassene Methodologie ...“ (ebd., 13).
Ich vermute, dass die meisten Klientinnen sich nach Empfang entgegnender Botschaften unbehaglich, vielleicht abgewertet fühlen. Ich gehe davon aus, dass die meisten Kollegen meistens das, was sie sagen, wohlwollend und unterstützend meinen. Und weiterhin glaube ich, dass es gerade wegen dieser akzeptierenden Beziehungsoberfläche äußerst schwierig ist, diese grundlegendere Ablehnung zu fassen zu kriegen, weshalb sie in der Regel nicht aufgearbeitet wird, sondern eher zu „Widerstand“, Misserfolg oder Abbruch führt.
Es scheint übrigens zumindest eine Gruppe von Klienten zu geben, die uns mit diesen Grundhaltungen und den daraus resultierenden Widersprüchen konfrontiert und scheitern lässt: die „Borderliner“. Anders als in einem Großteil der Fachliteratur dargestellt, nehme ich bei diesen Menschen weniger deren Beziehungsunfähigkeiten, Spaltungstendenzen und Schwarz-weiß-Malereien wahr als vielmehr eine verstörende Sensibilität für implizite und widersprüchliche Botschaften, auf welche sie uns gnadenlos zurückwerfen. Unsere selbst-verständlichen und fraglosen, i. e. pragmatischen und positivistischen Erkenntnistheorien (und Ethiken und Anthropologien und Krankheitsmodelle ...) funktionieren da nicht mehr! Und so halte ich es für nicht verwunderlich, dass uns diese Klientinnen als erste zu einer erkenntnistheoretischen Diskussion gezwungen haben, in deren Gefolge eine dialektische Grundlegung aufzutauchen scheint (vgl. Marsha Linehan’s Dialektisch Behaviorale Therapie; 1996). In anderen Wissenschaften entstehen ebenfalls Ansätze der dialektischen „Unschärfe“ oder auch „Fehlerfreundlichkeit“, z. B. in der Philosophie (vgl. dazu Walther Zimmerli 1989), in der Informationstechnologie („fuzzy“-Logik) und in der Technik (Einsatz von absturzorientierten Computer-Programmen in Maschinen; vgl. „der Spiegel“16/ 2004, 148). Auch mein eigener Standpunkt ist (derzeit) ein dialektischer: der Dialektische Konstruktivismus (vgl. Mehrgardt 1994) bzw. Textauszug auf dieser Website
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[1] Der zweite Teil dieses Artikel basiert auszugsweise auf meiner Arbeit Erkenntnistheoretische Fundierung der Gestalttherapie, 1999. In: Fuhr, R., Sreckovic, M. & Gremmler-Fuhr, M. (Hg.): Handbuch der Gestalttherapie. Göttingen (Hogrefe).
[2] Ich verwende aus Gründen der Lesbarkeit abwechselnd maskuline und feminine Bezeichnungen.
[3] Vgl. Foucaults Analogien zwischen Prostitution und Medizin (1998, 12 f., 16).
Michael Mehrgardt:
Homo solus - Doxa und Paradoxa des kulturellen Selbstverständnisses
Abstract
Der postmoderne Mensch, der Homo solus, ist ein einsamer Steppenwolf, dem Halt gebende Beziehungen und – auf gesellschaftlicher Ebene – Sozialpartnerschaft, Gerechtigkeit und Chancengleichheit nicht (mehr?) so recht gelingen wollen.
Auch die Psychotherapie scheint mit Hilfe hoheitlicher Regelung zunehmend beziehungslos zu werden. Aber gerade in Zeiten, in denen die Psychotherapie staatlich gemaßregelt wird, benötigt diese, um nicht vollends zur Psychotechnik zu verkommen, den kritischen Blick auf ihre eigenen Prämissen. Und welche Brille gibt diesem Blick eine klarere und durchdringendere Schärfe als die gestalttherapeutische?
Besinnen wir uns also der anarchistischen Tradition des Gestaltansatzes und schauen in dem folgenden Essay auf einige Grunddimensionen menschlichen Leidens! Dadurch klärt sich der Blick für erstarrte gesellschaftliche Regeln (Doxa) und die Möglichkeiten, diese zu übertreten (Paradoxa).
Das Kapitel, in dem ein alberner Witz erzählt wird
Es ist Nacht. Um eine Straßenlaterne torkelt, den Blick suchend auf den Boden gerichtet, ein Betrunkener. Ein Passant bleibt stehen, betrachtet dieses Schauspiel eine Zeit lang und fragt schließlich: „Suchen Sie etwas?“ „Hab‘ mein‘ Schschlssl verlohrn“, erwidert dieser lallend. Woraufhin sich der Passant hilfsbereit an der Suche beteiligt. „Wo haben Sie Ihren Schlüssel denn verloren?“, will dieser wenig später wissen. „Ach, da hinn’n, inner Tornfahd ...“ „Und warum suchen Sie dann hier?“ Entgeistert guckt der Helfer den Betrunkenen an, der sich verlegen am Kopf kratzt und erwidert: „Hier issis heller ...“
Sollten Sie, lieber Leser[1], diesen Witz noch nicht kennen, dann nehme ich jetzt mal zu meinen Gunsten an, dass Sie über ihn lachen müssen. Warum aber lachen wir über Witze? Weil sie, möchte ich antworten, Dinge miteinander in Verbindung bringen, die „eigentlich“ nichts miteinander zu tun haben, weil sie auf überraschende und ver-rückte Weise über Grenzen gehen, die wir eigentlich für unüberschreitbar halten. Dennoch haben Witze eine geheime Logik, der wir uns nicht entziehen können, und genau dies macht die Spannung aus, derer wir uns dann per Zwerchfellspasmen entledigen.
Insofern haben Witze mit Paradoxien viel gemein, nur dass Wissenschaftler über letztere ausgesprochen selten lachen können, sondern sich eher verzweifelt die Haare raufen. Ihre Strategie zur Spannungsreduktion besteht im Allgemeinen darin, dass sie das Paradoxon kurzerhand zum geistigen Sperrgebiet erklären, welches von reputationsgesteuerten Forschern nicht mehr betreten werden darf. Vielleicht schieben sie noch eine Begründung nach (oder vor), in der sie streng auf „unterschiedliche logische Ebenen“ oder „Kategorienfehler“ des Paradoxons verweisen. Paradoxien sind, mit Paul Watzlawick[2] gesprochen, Warnlampen, die zu blinken beginnen, sobald wir im Begriff sind, vertrautes Gebiet zu verlassen. „Hier geht’s nicht weiter“, sagt unsere Logik. „Betreten verboten!“, stellt sich die herrschende Moral in den Weg. „Vorsicht: Hässlichkeit und Gestank!“, meldet sich die Ästhetik, und das Machtwort spricht schließlich pragmatische Vernunft mit ihrem Urteil: „Das bringt sowieso nichts!“
Aber dann meldet sich noch eine Stimme, die ein bisschen nach Thomas Kuhn und ein bisschen nach Paul Feyerabend klingt: die Neugier, der Reiz des Verbotenen: Warum sollten wir uns von den Doxa einsperren lassen, von den Regeln also, denen nach Bourdieu sowohl Protagonisten als auch Antagonisten eines Sachgebietes fraglos Folge leisten? Über die nicht disputiert wird, weil das durch sie Verborgene zu banal, zu spekulativ, zu unwissenschaftlich, zu destruktiv oder zu unsichtbar ist?
Laut Bourdieu prallen in jedem Wissenschaftsbereich die etablierten, orthodoxen Auffassungen und die revolutionären, heterodoxen Entwürfe aufeinander. Er formuliert: „Das Feld der Argumente, welche Orthodoxie und Heterodoxie durch ihre Kämpfe definieren, ist abgegrenzt gegenüber dem Hintergrund des Feldes der Doxa, diesem Aggregat von Vorannahmen ... welche die Antagonisten als selbstevident ansehen und außerhalb des Argumentationsgebietes, weil sie stillschweigende Bedingungen für die Argumente bilden.“[3] Die Doxa dienen, quasi als Konsens im Dissens, als gemeinsamer Boden, auf dem die Antagonisten ihre Kämpfe austragen.
Gerade dieser „Bodensatz“ selbstverständlicher Wahrheiten und unbesprochener Prämissen soll uns hier interessieren; denn birgt nicht gerade das Neben-dem-Doxon-Liegende, das Para-Doxon, Hoffnung auf geniale, weil ver-rückte Auswege aus den zahlreichen Dilemmata der Menschheit?
Ja, wir lachen über den Betrunkenen, wir rümpfen verächtlich die Nase. Aber wir tun dies, weil wir ganz selbstverständlich einem Doxon verhaftet sind, welches da lauten könnte: Suche stets nur dort, wo du etwas verloren hast, sprich: wo es erlaubt ist!
Aber: Ist unser Betrunkener denn wirklich einfältig und dumm? Ist sein Geist nicht nur „gelockert“, d.h. losgelöst vom Normalen? Wenn wir in diesem Witz die Komplexität erhöhen, bspw. indem wir uns eine längere Geschichte dazu einfallen lassen, wäre es doch durchaus vorstellbar, dass der am „falschen“ Ort Suchende auf eine Spur des Schlüssels stößt. Vielleicht hat er den Schlüssel bereits vor Tagen verloren ...? Vielleicht hat ein Kind ...?
Man könnte sogar vermuten: Je komplexer das Gebilde ist und je mehr Prozesse in ihm ablaufen, desto wahrscheinlicher ist es, dass jeder beliebige Schlüsselsucher eine Spur jedes beliebigen Schlüssels ausfindig macht. Anders gewendet: Wo immer man in einem komplexen System nach einem Schlüssel (= einer Lösung, einer Ursache) sucht, wird man auf eine Spur stoßen. Das Problem dabei ist stets nur die Neigung des Forschers, die gefundene Spur, weil er sich der ungeheuren Komplexität des Feldes nicht bewusst ist, für die Ursache oder die Lösung zu halten.
Ich will das Paradoxon, welches zum Übertreten der vom Doxon gebotenen Grenzen auffordert, noch etwas pointierter formulieren:
Suche stets da, wo du nichts verloren hast, d.h. wo es nicht erlaubt ist!
Es gibt sicherlich viele solche Doxa. Ein weiteres Doxon ist: Krankheit ist schlecht. Sie muss vermieden, bekämpft, ausgemerzt werden! Das dazu „passende“ Paradoxon könnte lauten: Es ist gesund, krank zu sein!
Kommen wir nun zur Ausgangsfrage zurück, zu der ich sogleich meine Grundthese formulieren möchte: Wenn wir über Chancengleichheit, Sozialpartnerschaft und Gerechtigkeit nachdenken, müssen wir konstatieren, dass wir an die Grenzen desjenigen Gebietes gelangt sind, welches durch die fraglos gültigen Doxa aufgespannt wird. Wir finden keine befriedigenden Lösungen, egal ob sie konservativ oder fortschrittlich motiviert sind. Wir schieben uns nur gegenseitig die Schuld für die Misere in die Schuhe und damit die Verpflichtung, diese zu lösen. Ich bin überzeugt, dass dieser Weg in die Sackgasse führt. Also bleibt uns nur der unbequeme und manchmal beängstigende Weg, an den Prämissen zu rütteln in der Hoffnung, neue Fragen zu (er)finden und so unseren Erkenntnisraum zu erweitern.
Ich will also in der vorliegenden Arbeit versuchen, diejenigen Doxa ausfindig zu machen, die uns immer wieder daran hinderten und weiterhin hindern werden, förderliche soziale Gebäude zu errichten. Im Anschluss daran werde ich die notwendigen Paradoxa formulieren, die uns einen Ausweg aus den gesellschaftlichen Aporien weisen können. Dies möchte ich von einem marginalen Standpunkt aus tun, weil ein solcher den Blick auf derart tief liegende Prämissen eher freigibt als die Perspektive eines institutionell Eingebundenen. Ich werde diesen Blick als Psychotherapeut „vom Rande her“ auf den kulturellen, verborgenen Untergrund richten, an dem viele Menschen und alle Patienten – ohne es zu wissen – leiden.
Das Kapitel, in dem das Leiden nicht „verrückt“, sondern „verrückend“ genannt wird
Meine Chancen, als Psychologischer Psychotherapeut einige dieser unbesprochenen Prämissen zu Gesicht zu bekommen, waren über viele Jahre recht gut: Ich konnte beobachten, dass Menschen, die mich in Lebenskrisen aufsuchten, genau genommen an immer wieder denselben zentralen Doxa unserer Kultur litten und paradoxe, über diese hinaus weisende Symptome produzierten, die sie selbst und ihre Umwelt typischerweise als „Störung“ oder als „ver-rückt“ empfanden. Deshalb gaben sie ihnen Namen, die unmissverständlich verkündeten, dass es sich hier um fehlerhafte, unnatürliche Vorgänge handelte, welche auszumerzen seien.
Meine Perspektive war günstig, weil ich randständig, d.h. ohne feste institutionelle Eingliederung, arbeitete. Vor etwa einem Jahr wurden meine KollegInnen und ich im Vollzug des Psychotherapeutengesetzes von einem riesigen Moloch namens „Gesundheitswesen“ geschluckt – Euphemisten bezeichnen diesen Vorgang als Integration. Die Psychotherapie erfuhr eine schulmedizinische „Behandlung“ und rüstet sich nun mit dem neuen Image der Psychomechanik zum Sturm auf die Patientenscharen. Leider muss ich zugeben, dass sich auch mein Blick für das Ganze, Sinnhafte und Grundsätzliche unter der Gleichschaltung zu trüben beginnt, und ich hoffe, dass ich diesen Artikel noch vor meiner vollständigen Verscheuklappung zu Ende kriege.
Verzeihen Sie mir diesen Seitenhieb. – Um den Doxa, die ich hier vorstellen möchte, auf die Spur zu kommen, versuche ich, das Leiden Hilfesuchender auf die folgenden vier Grunddimensionen zu reduzieren, die ich als grundlegende Aporien unserer Kultur ansehe:
- das Leiden am fehlenden Du: Ich bin einsam, bin anders als die Anderen, bin nicht normal, gehöre nicht dazu, bin verrückt;
- das Leiden am fehlenden Wissen: Ich sehe die Welt nicht richtig, nicht mich selbst und ebenso wenig den Anderen; ich weiß nicht, also bin ich nicht;
- das Leiden an fehlender Macht: Ich kenne das Problem, kenne die Lösung, aber ich bin ohnmächtig, etwas zu tun;
- das Leiden am fehlenden Schatten: Ich fühle in mir etwas, was zu mir gehört, was aber nicht da sein sollte: Böses, Trauer, Unnützes, Alter, Krankhaftes, Tod, Lust, Neugier.
Natürlich spüren heute im Allgemeinen weder die Patienten selbst noch die Behandler das kreative und kulturkritische, das Grenzen verrückende Potenzial der Symptome; in Bewegungen wie dem Sozialistischen Patientenkollektiv oder der Free Clinic Heidelberg, Ausläufern von 1968, erhoffte man von diesem revolutionären Aspekt der Symptome die Initialzündung für gesellschaftliche Veränderungen. Heute ist davon keine Rede mehr. Heute wird Leiden, ent-wesentlicht, entkernt, versachlicht, individualisiert; dem Leidenden wird nicht mehr be-gegnet, sondern ent-gegnet. Bezeichnenderweise wird es heutzutage Störung genannt. Mit diesem ebenso unauffälligen wie genialen verbalen Kunstgriff des Zeitgeistes hat das chirurgische Problemlösungs-Modell Oberwasser bekommen; ja es taucht nun nicht einmal mehr die Idee auf, es könnte Alternativen geben. „Ich habe das Böse tief im Gesunden herausgeschnitten“, pflegte vor Jahren ein Chefarzt seinen Patienten die an ihnen vorgenommenen Krebs-Operationen zu umschreiben. Und genau so wird heute Krankheit, werden Probleme überhaupt angesehen: als Störung, als Böses, das es herauszuschneiden und auszumerzen gilt.
Insofern fällt diesem Doxon, welches im Leiden am fehlenden Schatten aufscheint, die Funktion des Grenzwächters zu, indem es die gesellschaftlichen Aporien, bevor sie sich als solche offenbaren, dem Einzelnen aufbürdet.
Diesen Grenzposten beginnen wir zu verjagen, wenn uns unsere Störung wieder als Leid erfahrbar wird, wenn mit den erwachenden Sinnen auch der Sinn zurückkehrt und die Botschaften des Krankseins durch die nachlassende Selbstanklage hindurch schimmern. Der Grenzposten kann seine Stellung nicht länger halten; immer deutlicher gibt er den Blick auf wichtige Doxa frei, auf genau diejenigen „Selbstverständlichkeiten“, die verhinderten, dass wir uns selbst verstanden.
Ich will nun den Versuch unternehmen, die hinter den vier Grunddimensionen des Leidens stehenden Doxa zu identifizieren, um dann für jedes ein passendes Paradoxon zu entwickeln, von dem ich hoffe, dass es – in allgemeiner Betrachtung – förderlich für unser Wohlergehen ist und – in spezieller Sicht – „Chancengleichheit, Sozialpartnerschaft und Gerechtigkeit“ zu verwirklichen hilft. In dem thematischen Zusammenhang dieser Arbeit werde ich dann auf das erste Doxon ausführlich eingehen und die verbleibenden Doxa anschließend in einer Zusammenschau blitzlichtartig betrachten. Wahrscheinlich müsste ich gar nicht mehr ausdrücklich erwähnen, dass ich keine absoluten Wahrheiten zu verkünden gedenke, sondern lediglich durch eine von vielen gleichermaßen möglichen Brillen schaue, eine Brille aber, für deren Verwendung ich nach Kräften werben möchte.
Nun zu den vier zentralen Doxa, die jeweils „hinter“ den oben aufgezählten Grunddimensionen des Leidens bzw. Aporien unserer Kultur stehen:
- das Identitäts- (bzw. topologische) Doxon: Ich bin ich und du bist du. Oder: A = A ungleich Nicht-A (vgl. das Leiden am fehlenden Du);
- das Doxon des Wissenden: Die Realität ist prinzipiell erkennbar. Oder: Wer nicht weiß, der nicht ist (vgl. das Leiden am fehlenden Wissen);
- das interventionistische Doxon: Jedes Problem ist prinzipiell lösbar. Oder: Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. (vgl. das Leiden an fehlender Macht);
- das pragmatische Doxon: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Oder: Das Böse ist immer das Fremde. Oder: Gut ist, was nützt (vgl. das Leiden am fehlenden Schatten).
Zwecks Annäherung an die im Titel dieser Arbeit aufgeworfene Frage werde ich mich im Folgenden gründlich mit dem ersten Doxon auseinandersetzen und aufzuzeigen versuchen, inwiefern dieses einen äußerst negativen Untergrund für ein konstruktives und effektives Miteinander bildet. Ich werde aufzeigen, in welche Richtung der Diskurs fortentwickelt werden muss, um eine stabile Gründung für eine Sozialpartnerschaft zu errichten. Anschließend werde ich einen Ausblick auf Wirkung und notwendige Änderungsrichtung der übrigen Doxa wagen.
Das Kapitel, im dem unser kulturelles Selbstverständnis dargelegt wird
Betrachten Sie mit mir einmal die Begriffe Chancengleichheit, Sozialpartnerschaft und Gerechtigkeit: Diese implizieren zumindest zwei Entitäten, zwischen denen irgendeine Art von Gleichheit usw. existiert (oder nicht); darüber hinaus ist ein gemeinsames Kriterium (Chancen..., Sozial...) oder eine verbindliche Instanz (Moral oder Gesetz) angesprochen, eine Funktion also, welche ich in allgemeiner Diktion das Zwischen nennen möchte. Wenn wir die „doxischen“ Tiefenbedeutungen analysieren wollen, können wir also nach dem Wesen der beteiligten Entitäten sowie des Zwischen fragen. Genauer: Welches Wesen schreibt unsere westliche Kultur dem einzelnen Menschen einerseits und dem Zwischen(raum) andererseits zu?
Der zweite Teil der Frage ist schnell beantwortet: Meines Erachtens ist der Zwischenraum in unserem Verständnis fast ausschließlich formal definiert, d.h. durch physikalische Maße (wie Entfernungsmaße), durch Ge- und Verbote. Der Zwischenraum ist aber nicht wesentlich erfüllt.
Diese These möchte ich anhand unseres kulturellen Selbstverständnisses belegen, und dieses ist – so meine ich – gut anhand der Konstrukte zu erhellen, welche unsere Kultur über das Wesen des Selbst bzw. der Identität hervorgebracht hat. Ich will also versuchen, Selbst- und Identitätstheorien, Persönlichkeitsmodelle, Typologien, Charakterologien und Verhaltenstheorien in ihren Grundzügen darzustellen, voneinander abzuheben, um dann den grundlegenden Konsens im Dissens zu identifizieren und so zur Ebene der unhinterfragten Doxa vorzustoßen.
Es gibt die unterschiedlichsten Kategorisierungsversuche der bestehenden Theorien. Ich will mich auf eine Einteilung von Klaus Schneewind[4] beziehen, weil ich diese für die grundlegendste halte, was uns ja auf der Suche nach den gemeinsamen Prämissen eine gute Hilfe ist. Schneewind unterscheidet (a) mechanistische Modelle in der Tradition der empiristischen Philosophie von (b) organismischen Ansätzen, die aus dem philosophischen Idealismus hervorgegangen sind, und (c) dialektischen Konzepten, welche auf entsprechenden Strömungen in der Philosophie gründen.
Zu den mechanistischen Theorien zählen insbesondere
- die Typologien (bspw. von Hippokrates, Ernst Kretschmer, William Sheldon), in denen bestimmte Erscheinungsformen des menschlichen Charakters bestimmten körperlichen Merkmalen zugeordnet werden. (Z.B. entspricht der Charaktertyp des Melancholikers dem Vorherrschen des Körpersaftes schwarze Galle.);
- die Eigenschaftstheorien (faktorenanalytische Persönlichkeitstheorien, z.B. von Raymond B. Cattell), in denen die Einzelnen durch die unterschiedlichen Ausprägungen von vorgegebenen Eigenschaften, ihr jeweiliges Eigenschafts-Profil, quantitativ voneinander abgehoben werden;
- Freuds psychoanalytische Persönlichkeitstheorie, in welcher ein Triumvirat von psychischen Apparaturen – Es, Ich und Über-Ich – das menschliche Verhalten steuert;
- Lerntheorien (z.B. John B. Watson, Burrhus F. Skinner, Iwan Pawlow, Albert Bandura, Frederick Kanfer), denen gemäß Verhalten gesteuert wird durch Muster äußerer und innerer Reize, so dass „Inhalte“ von Persönlichkeit oder Selbst praktisch ohne Belang sind.
Die Differenzen zwischen diesen Modellen wurden zum Teil recht kämpferisch und ideologisch ausgefochten. Dennoch fanden und finden sie – aus einer grundsätzlichen Perspektive betrachtet – allenfalls auf einer mittleren Abstraktionsebene statt, bspw. hinsichtlich der Frage, ob Verhalten internal oder external gesteuert sei. Insofern konnte als „fortschrittlicher“ Kompromiss auch lediglich ein additiver Interaktionismus („Beides ist richtig.“) gelingen, in welchem die grundlegenden Infragestellungen ausgeklammert blieben. Gemeinsam ist diesen Menschenbildern die selbstverständliche Projektion technischer, mechanischer und hydraulischer Vorgänge auf das Lebendige. Demnach ist Persönlichkeit aus beliebigen Einzelteilen summativ zusammengesetzt und wird angetrieben wie eine kartesianische Maschine, welche eindeutig, kontrollierbar und vorhersagbar funktioniert. Im Gegensatz zu Descartes‘ Intention findet diese Maschinentheorie nunmehr nicht nur Anwendung auf die res extensa, die ausgedehnte Materie, sondern auch auf die res cogitans, das denkende Wesen. Wolfgang Metzger[5] beschreibt und widerlegt diese impliziten Prämissen, die er den atomistischen, materialistischen, mechanistischen, eleatischen Grundsatz sowie den Grundsatz der Beliebigkeit und Unordnung nennt.
Symptomatisch für unsere Zeit ist, dass es gerade mechanistische Ansätze sind, welche die offizielle Richtlinienpsychotherapie beherrschen. Auch wenn innerhalb des mechanistischen Lagers noch Glaubenskämpfe über den „wahren“ Verursachungsort geführt werden, sind diese Differenzen doch recht unwesentlicher Natur. Die linear-mechanistische Grundhaltung nämlich mündet im Falle eines Defekts in einen pragmatischen Interventionismus, demzufolge (a) dieser Defekt auf eine eindeutige Ursache reduzierbar, (b) diese Ursache eindeutig erkennbar und (c) mittels eines gezielten Eingriffs behebbar ist. Auf die Bedeutung des Interventionismus werde ich später noch kurz eingehen.
Als Gegenströmung zu den mechanistischen Modellen können die organismischen Ansätze aufgefasst werden. Sie erklären sich als Ausläufer des philosophischen Idealismus und der Humanistischen Bewegung in den Vereinigten Staaten, als deren Urheber Abraham Maslow gilt. Zu den organismischen Persönlichkeitstheorien zählen u.a.:
- die Selbsttheorie der Persönlichkeit von Carl Rogers, in der das Selbst als die zielgerichtete Tendenz des Organismus verstanden wird, sich zu aktualisieren, d.h. zu erhalten und weiter zu entwickeln;
- die Selbsttheorie der Gestalttherapie von Fritz Perls und Paul Goodman, in welcher das Selbst als das System der ständig neuen Kontakte definiert und an der gemeinsamen Grenze von Organismus und Umwelt verortet wird;
- selbstorganisationstheoretische (radikal-konstruktivistische) Ansätze (bspw. Maturana & Varela, von Glasersfeld, von Foerster, systemische Familientherapie), in denen die Fähigkeit zur spontanen Ordnungsbildung, zur Konstruktion und sozialen Erzeugung der Welt hervorgehoben wird.
Organismische Sichtweisen verzeichnen als Gemeinsamkeiten (a) das Interesse am ganzheitlichen Wesen des Menschen, (b) die Zugrundelegung der Fähigkeit zur Selbstorganisation und –referentialität, (c) die Hintanstellung differenzieller Fragestellungen, (d) die Rehabilitierung phänomenologischer und introspektiver Methoden, (e) den Verzicht auf analytische Zergliederung zugunsten des Erfassens von Bedeutungszusammenhängen, (f) die Betonung der Tendenz zur Selbstverwirklichung, zur Ordnungs- sowie Bedeutungsbildung.
In ihrer Kritik an den seelen- und sinnfreien Menschenbildern des mechanistischen Paradigmas und an seinen impliziten Ansprüchen nach fehlerlosem Funktionieren ist die humanistisch-organismische Bewegung sicherlich ein wichtiges Korrektiv; es darf aber nicht übersehen werden, dass diese gleichzeitig Wertungen und Normen konstruiert, die einerseits einladender klingen, andererseits aber auf subtilere und umfassendere Weise die Erfahrung des Ungenügens und Scheiterns produzieren. Werte wie Emanzipation, sexuelle Befreiung, Selbstverwirklichung, guter Kontakt erfahren nur zu leicht ihre Deformation zu überhöhten Imperativen, deren Erfüllung dem Urteil selbstgerechter Gurus obliegt. Wird in den mechanistischen Ansätzen der Mensch auf eine additive Ansammlung nahezu beliebiger Dimensionen reduziert, hinsichtlich ihrer jeweiligen Ausprägung quantifiziert, auf fehlerloses Funktionieren geprüft und ggf. instand gesetzt, so werden ihm im organismischen Ductus auf einfühlsame, aber um so unmissverständlichere Weise seine wesentlichen Schwächen vorgehalten: Die Entwertung betrifft nun nicht mehr nur einzelne, behebbare Mangelfunktionen; die Entwertung wird ebenfalls umfassend und wesentlich: kontaktunfähig! beziehungsgestört! gepanzert! nicht im Fluss! reaktionär! ungeeignet! lebensfeindlich! etc.. Die gesamte Alltagsepistemologie wird gar als untauglich erklärt (Radikaler Konstruktivismus) und als eigentlicher Verursacher von Pathologie hingestellt (Systemische Familientherapie).
In der Definition dialektischer Konstruktionen tauchen viele Unstimmigkeiten auf: Die einen legen die Betonung auf die reziproke, interaktive Beziehung zwischen Person und Umwelt, eine Bestimmung, die allerdings einem rein mechanistischen Interaktionismus verhaftet bleibt. Die anderen weisen die Unterscheidung zwischen unabhängigen (verursachenden) und abhängigen Variablen zurück und benennen dies als den Kern der dialektischen Zusammenschau. Meines Erachtens reichen diese Bestimmungen nicht aus. Es reicht nicht aus, Dialektik als klappernden Rhythmus von Thesis, Antithesis und Synthesis zu verstehen, wie es Weischedel[6] einmal formulierte; es reicht nicht aus, diese anhand der drei Prinzipien des Widerspruchs, der Negation der Negation und des Umschlagens von Quantität in Qualität zu definieren. Ich glaube, dass dialektische Zusammenhänge für uns Westler schwer zu begreifen sind, und zwar einfach, weil sie per definitionem nicht zu fassen sind. Wir müssen schon auf Nietzsche, Hegel oder Friedlaender zurückgreifen oder buddhistische Lehren heranziehen, um die Toleranz für begriffliche Unschärfe und logische Gleichzeitigkeit von einander negierenden Polen zu entwickeln, die für das Erfassen des dialektischen Prinzips vonnöten sind.
Meines Erachtens sind – mit Hegel[7] formuliert – weitere vier Bestimmungen unerlässlich, um einen dialektischen Zusammenhang zwischen den Polen A und B postulieren zu können: Erstens gehören beide untrennbar zusammen; das Eine kann nicht ohne das Andere existieren. Zweitens sind beide nicht nur durch ihre Grenze zum jeweils Anderen bestimmt, sondern gründen ihr Sein in dem Sein des jeweiligen Gegenstücks. Drittens enthält jeder Pol, da er nur durch die Negation des Gegenpols in seinem Wesen definiert ist, diesen stets auch in sich. Und viertens vereinen sich beide Gegenstücke zu einer dialektischen Einheit, in welcher sie fortwährend sowohl sie selbst bleiben als auch ineinander übergehen.
Darüber hinaus muss eine dialektische Selbsttheorie, da sie die Frage nach „der Wahrheit“ sowohl im Zusammentreffen mehrerer Selbste thematisiert als auch im Aufeinanderprallen „subjektiver“ und „objektiver“ Welten, auf eine Erkenntnistheorie fußen. Eine solche ist im zweiten Doxon, dem des Wissenden, angesprochen, worauf ich später noch kurz eingehen werde.
Diesen strengen Kriterien für einen dialektischen Entwurf einer Selbsttheorie halten bestehende, unter diesem Begriff subsumierte Modelle kaum stand. Dennoch seien einige von ihnen hier kurz aufgeführt, und zwar:
- der historische und dialektische Materialismus von Karl Marx und Friedrich Engels, in welcher der Mensch (historisch und materialistisch) als Produkt und Produzent der gesellschaftlichen Verhältnisse gesehen wird. Dieser Ansatz wurde von Klaus Holzkamp zu einer kritisch-psychologischen Theorie ausgearbeitet;
- die humanistisch-sozialistische Charaktertheorie Erich Fromms – eine Synthese von Marxismus und Psychoanalyse – in welcher die existenziellen Dichotomien als conditio humana in den Mittelpunkt gerückt werden;
- die Identitätspsychologie (u.a. Heiner Keupp, Helga Bilden, Renate Höfer), in welcher die postmodernen Aporien (wie zunehmende Individualisierung, Verlust von Werten und Zugehörigkeiten) für die Entstehung von Patchwork-Identitäten verantwortlich gemacht werden.
Während der Marx-Holzkamp’sche Ansatz sowie Fromms Charaktertheorie immerhin einer historisch-dialektischen Denkweise verpflichtet sind, scheint die postmoderne Identitätspsychologie in eine rein additive Sicht des Menschen zurückgefallen zu sein. Statt auf die aporistisch anmutenden Antithesen der Postmoderne hin einen existenziellen Diskurs zu eröffnen, löst sie diese kurzerhand dadurch auf, dass sie Orientierungslosigkeit in Zugewinn kreativer Lebensmöglichkeiten, Vereinsamung in interpersonelle Experimentierfreudigkeit, Identitätsdiffusion in Freiheit von Identitätszwang umdeutet.[8]
Einen anderen Weg beschreitet der Kommunitarismus, der – ausgehend von derselben Zeitanalyse – das existenziell-dialektische Verhältnis zwischen persönlicher Identitätsbildung und ihrer kommunikativen Bedingung in das Zentrum seines Diskurses stellt.
Das Kapitel, in dem von Ent-Gegnung die Rede ist
Um uns nun der Aufdeckung der grundlegenden Prämissen des westlichen Selbstverständnisses anzunähern: Diese Haltung, welche den mechanistischen Modellen zugrunde liegt, in den organismischen Entwürfen die Antithese der Ganzheitlichkeit wachruft, in einigen dialektischen Ansätzen immerhin ansatzweise thematisiert wird, erscheint in der postmodernen Identitätspsychologie als Karikatur ihrer selbst. Der Gestaltpsychologe Wolfgang Metzger kommt mit seiner Kritik an den Grundsätzen des Mechanismus, des Materialismus, des Eleatismus sowie der Unordnung und Beliebigkeit in dem herrschenden Weltbild der Aufdeckung des basalen Doxons nahe; genau besehen formuliert er zu den genannten Grundsätzen die Antithesen. Der gemeinsame Grund von These und Antithese ist damit aber noch nicht enthüllt.
Der Blick auf diesen wird frei, indem wir etwas ganz Einfaches tun, indem wir nämlich die etymologische Bedeutung des Wortes Identität betrachten: Dieses ist abgeleitet von dem lateinischen Demonstrativpronomen idem = ein und derselbe. Mit den Worten des Dudens: Das Identitätsgesetz der Logik lautet: A = A bzw.: Jeder Gegenstand ist sich selbst identisch. Diese Definition klingt für uns „selbstverständlich“. Aber sie schließt etwas aus, nämlich dass ein Ding zugleich mit etwas Anderem identisch sein könnte! Wenn also zwei Identitäten A und B miteinander in Kontakt treten, müssen anschließend beide unverändert fortbestehen, um ihre Identitätserhaltung weiterhin postulieren zu können. Auch wenn ein Austausch von Waren oder Ideen oder Wärme stattfindet, so bleiben die Grenzen doch unverrückbar. Beide Identitäten können sich nicht überschneiden oder gar zur Deckung kommen. Es dürfen keine identitätsstiftenden Elemente von A in B oder umgekehrt wiederzufinden sein. Sie können sich nicht „verdoppeln“. „Geteilte Freude ist doppelte Freude“, so etwas kann es laut Identitäts-Doxon nicht geben. Die Vorgänge des Atmens, der Nahrungsaufnahme und -ausscheidung, das Weitergeben von Ideen, Liebe sind mit unserem Identitätsbegriff nur insoweit kompatibel, wie es sich hier um eine Art Warentausch handelt: A nimmt etwas zu sich, was B von sich gibt. Das Eine wird reicher, das Andere ärmer.
Sicherlich, es ist eine Möglichkeit, das Zusammentreffen zweier Identitäten in dieser Weise zu sehen. Es ist aber eine Sichtweise, welche den Unterschied, die Grenze, das Anders- und Getrenntsein betont.
Diese Spaltung beginnt in unserem Kulturkreis sicherlich nicht erst mit der kartesianischen Scheidung von res extensa und res cogitans. Sie geht auf Parmenides von Elea (um 500 vor Christus) zurück, der die Welt in die Erscheinungen und das eigentliche Sein hinter den Erscheinungen zerschlug. Somit ist diese Spaltung tief in unser Denken und Handeln eingedrungen, so tief, dass unser Bewusstsein sie als apriorische Verstandeskategorie auf alles Geschaute projiziert.
Unter der Herrschaft dieses Doxons kann echte Begegnung nicht stattfinden; zumindest ist sie eine Gefahr, da sie durch einen Verlust von Identität erkauft werden müsste. Nicht von ungefähr werden in unserer Kultur Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz als einander ausschließende Antagonisten gehandelt: Selbstverwirklichung, Emanzipation, kann in dieser Sicht nur gelingen, wenn die Grenzen abgeschottet werden, kann nur den Unterschied betonen. Selbsttranszendenz hingegen ist gefährlich selbstauflösend und wird in den definierten Raum esoterischer Zirkel verwiesen.
So müssen wir uns also entscheiden: entweder für Identität (= Selbstverwirklichung = Abgrenzung) oder für Begegnung (= Selbsttranszendenz = Über-sich-hinaus-Gehen). Da wir aber beides brauchen, kommt ein merkwürdiger, krank machender Zwitter heraus: die Ent-Gegnung, die Verweigerung von Begegnung im Aufeinandertreffen. Auf dem Hintergrund dieses Zeitgeistes ist dies durchaus funktional; denn eine echte Begegnung wäre identitätsgefährdend, weil mit Verlust verbunden. Die viel bejammerte Singularisierung unserer Zeit, die Vereinsamung, Beziehungs- und Sinnleere , all dies zeigt sich in dieser Betrachtung nicht nur als Manifestation zunehmender sozialer Inkompetenzen, wie es der psychotherapeutische Reparaturbetrieb gern hinstellt; darüber hinaus ist dies ebenso die beste aller möglichen – aber notwendigerweise pathogenen – Strategien des Selbstschutzes. Pathogen ist sie insofern , als sie in exponenziell zunehmendem Maße Isolation und Sinnleere wie auch Depressions- und Angsterkrankungen erzeugt.
Wir sind eine „Ja, aber“-Kultur: Dieses „Ja, aber“ ist eine der häufigsten Sprachfiguren in verbalen Entgegnungen (= Ent-Gegnung). In dem Versuch, das Minimum an lebenserhaltender Begegnung („ja“) zu erhaschen, vernichten wir diese im Augenblick des Entstehens („aber“). Insofern muss es auch als folgerichtige Entwicklung betrachtet werden, dass soziales Zusammentreffen „entwesentlicht“ wird. In gleichem Maße wie semantische, inhaltliche und existenzielle Information vermieden wird, nimmt – als Surrogat – der Austausch leerer oder formaler Information explosionsartig zu: Die myriadenfachen Vernetzungen im Internet zeigen dem Benutzer vor allem dies: „Auf dem Wege dieses Links, welches du gerade aufgerufen hast, könnte eine wesentliche Information transportiert werden, wenn es denn eine gäbe ...“
Diese tief sitzende Spaltung kann auch als topologisches Doxon bezeichnet werden. Dieses besagt, dass zwei Entitäten eindeutig und überschneidungsfrei voneinander abzugrenzen sind. Mit anderen Worten: Die Metapher eines abgegrenzten räumlichen Gebildes, mit der wir Identitäten selbstverständlich belegen, zeugt von einem naiven Physikalismus sensu Bischof[9], von der Projektion einfacher physikalischer Verhältnisse auf komplexe lebende Systeme. In dieser Vorstellung können zwei Identitäten sich nicht durchdringen, sich nicht miteinander vermischen; sie können allenfalls aneinander stoßen. Ein Selbst, eine Identität kann nicht gleichzeitig Teil von Person A und Person B sein. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (z.B Gestalttherapie-Theorie) betrachten alle akademischen Selbsttheorien des Westens ihren Gegenstand derart in Analogie zu topologisch definierten Gebilden. Identitäten sind demnach wie Länder mit fest umrissenen Grenzen und geregeltem Grenzverkehr. Menschen, Gebäude, Schätze, Ideen können nur jeweils einem Land zugehören. Sobald sie die Grenze passieren, wechseln Zugehörigkeit und Besitz. Was das eine Land gewinnt, geht dem anderen verloren. Es gibt zwar Streitigkeiten um Grenzverläufe, illegale Einwanderungen, Schmuggel; aber dies sind Unregelmäßigkeiten, die es auszumerzen gilt.
Dem westlichen Selbstverständnis liegt die unausgesprochene Setzung zugrunde, dass es diese Grenze ontologisch gibt, dass ein Innen und Außen, ein „Zugehörig“ und „Fremd“ existieren. So herrscht zwar ein reges Treiben an den Grenzorten: Warentausch, Verhandlungen, Kontrollen, Zurückweisungen.
Ist dies aber die einzig mögliche Betrachtungsweise? Sollten wir Begegnung so sehen? Besteht Begegnung denn nur im Einverleiben, im Tauschen mit dem Ziel, einen Vorteil zu erringen? Im Gleichmachen des Ungleichen, im Ausstoßen des Nicht-Assimilierbaren, im Zurückweisen des Fremden? Bzw.: Wollen wir wirklich Begegnung so verstehen und eo ipso in dieser Weise kreieren?
Es dürfte klar geworden sein: Hier geht es nicht um die Frage nach der „wahren“, der „richtigen“ Selbsttheorie. Hier geht es vielmehr um ethische Entscheidungen, mit denen wir ein Selbstverständnis stets aufs Neue erzeugen, welches tatsächliche Strukturen erzeugt, welche das Selbstverständnis erzeugen, das wiederum die Strukturen erzeugt ... Usw. Auch wenn wir es im Alltag nicht bedenken, treffen wir in jedem Moment eine Wahl, deren Wirkungen wir zu spüren kriegen und zu verantworten haben. Es ist hier demnach kein logischer, erkenntnistheoretischer Beweis möglich und nötig; mein Anliegen ist es vielmehr, eine bestimmte Wahl plausibel zu machen und ethisch dafür einzutreten.
Ich möchte meine ethische Kritik an unserem Selbstverständnis unter drei Schlagwörtern zusammenfassen. Das topologische Doxon erzeugt nämlich drei wesentliche Prinzipien, und zwar:
(a) das Entweder/Oder-Prinzip: Ein Ding gehört entweder mir oder dir. Im Zweifelsfall muss darum gekämpft werden: Entweder habe ich Recht oder du. Entweder kann ich mich emanzipieren oder die Ehe mit dir fortsetzen.
(b) Das Import/Export-Prinzip: Was mir fehlt, muss ich importieren. Das bedeutet zwangsläufig, dass es von jemand anderem exportiert werden muss und diesem dadurch verloren geht. Zwar fließt (manchmal) ein Zahlungsmittel in die andere Richtung; das heißt aber lediglich, dass im Idealfall Gewinne und Verluste ausgewogen sind. Realiter liegt das Wesen der Marktwirtschaft – das ich hier für das westliche Selbstverständnis einsetzen zu können glaube – aber gerade in dem Streben, mehr zu bekommen als zu bezahlen, oder – anders gewendet – Gewinne zu privatisieren (= importieren) und Verluste zu sozialisieren (= exportieren). Damit entsteht als angezieltes Ideal das eines zero/sum- (Handels-/ Konflikt-) Ergebnisses, welches in seiner Auftretenswahrscheinlichkeit ganz einfach dadurch erhöht wird, dass in der Regel Macht und Ressourcen ungleich verteilt sind.
Mit entgegengesetztem Vorzeichen wird Wertloses oder Schädliches ausgegrenzt, indem man z.B. die Schuld für die eigene Tat dem anderen zuschiebt, den Atommüll in ein anderes Land exportiert, das eigene Böse auf fremde Kulturen projiziert.
Der moderne Mensch hat gar ein derartiges Import-/Export-Verhältnis zu sich selbst, etwa zwischen Psyche und Soma etablieren können: Er verlagert Schmerzliches aus dem zu verantwortenden Bereich des Seelischen in die Region körperlicher Prozesse, für die er in unserer Kultur ja „nichts kann“. Die Zunahme von psychosomatischen und dissoziativen Störungen in den psychotherapeutischen Praxen mag als Indiz dafür gelten, wie sehr sich Grenzbildungen und Spaltungen sogar bis ins Innere fortsetzen.
(c) das Kolonialisierungs-Prinzip: Das topologische Selbst zielt auf die Ausdehnung des eigenen Bereichs durch Unterwerfung, Kolonialisierung, Gleichschaltung, Missionierung oder „feindliche Übernahme“ anderer. Es muss jederzeit so mächtig sein, dass es gegen andere bestehen kann. Somit kommt nur dem Bedeutung zu, was es hier und jetzt stärkt; die zeitlich und räumlich fernen Effekte seines Tuns zählen nicht. Es zählt auch nicht, was es dem Anderen und/ oder dem Ganzen, von dem es Teil ist, antut.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass diese Implikationen des topologischen Doxons – Entweder/Oder, Import/Export, Kolonialisierung – letztlich in territoriale Kämpfe ausarten, wann immer zwei Selbste aufeinander treffen, besonders dann, wenn relevante Ressourcen knapp sind. Dabei wird mindestens eine der Parteien Teile der eigenen Identität verlieren.
Ich glaube, dass dieser eben genannte Satz eine der Grundregeln der westlichen Kultur darstellt, wenngleich sein Wirken durch allerlei Konventionen und Institutionen in Schach gehalten wird. Mit den zunehmenden Dissoziationen des topologischen Selbst ist uns immer mehr eine Art Wahrnehmungsorgan für das Ganze, von dem wir Teil sind, abhanden gekommen. Oder aber, falls die Menschen ein solches niemals besessen haben sollten: Mit zunehmender Verflechtung und Globalisierung wird es eben immer gravierender, dass ein solches nicht existiert. Wir nehmen nicht (mehr) wahr und nicht (mehr) für wahr, dass wir das, was wir dem Anderen/ dem Ganzen antun, letztlich uns selbst zufügen. Es gibt keine Institution (mehr), die das Wohl des Ganzen im Auge hat. Die Politik, die Umweltpolitik, die Demokratie, alles ist in oligarchische Machtblöcke eingegossen, die mit eingegrenztem Blick auf ihre ureigenen Interessen Entscheidungen treffen, die in ihren Konsequenzen weit über ihre Bezugsgruppe hinaus reichen. Wer (noch) „das Gemeinwohl“ als Entscheidungskriterium ansieht, wer (noch) an die Bedeutung sachlicher Argumentation glaubt, wer (noch) unsere Gesellschaftsordnung als demokratisch erachtet, den möchte ich einen liebenswerten und weltfremden Utopisten nennen.
Das Kapitel, in dem die Behauptung aufgestellt wird, dass A = B ist
Umso wichtiger ist es, hier eine konkrete Utopie sensu Bloch zu entwickeln. Es ist unnütz und es schürt stets neue Probleme, wenn wir auf pragmatische Weise „Sozialpartnerschaft“, „Chancengleichheit“ und „Gerechtigkeit“ ein wenig mehr nach „links unten“ oder nach „rechts oben“ verschieben. Unser Selbstverständnis ist es, welches der Grundüberholung bedarf.
Mit der folgenden Schilderung eines Experiments möchte ich aufzeigen, in welche Richtung der Diskurs sich entwickeln sollte. Es ist ein Experiment, welches das Verknüpftsein von Menschen betont und Strategien, die dieses berücksichtigen, als überlegen herausstellt. Es ist als Axelrod-Experiment[10] bekannt geworden: Zur Entwicklung der Spieltheorie trug der amerikanische Politologe Robert Axelrod 1979 ein Computer-Turnier aus, in dem Experten aus Politologie, Soziologie, Ökonomie, Psychologie und Mathematik um die erfolgreichste Strategie stritten. Hoch komplexe, einfache, verdeckte und offen dargelegte Regularien wurden eingesetzt, um vor allem eines, nämlich „Auszahlungserfolg“, sicherzustellen. Unter den Mitspielern befand sich der kanadische Mathematiker und Systemtheoretiker Anatol Rapoport. Sein Programm „Tit for Tat“ – das simpelste von allen – hatte nur vier Regeln: 1. Spiele immer offen! 2. Suche immer Kooperation! 3. Wirst du ausgenutzt, schlage unverzüglich zurück! 4. Sei nicht nachtragend, sobald als möglich, kooperiere von Neuem! Anatol Rapoport gewann dieses Turnier ebenso wie das folgende, zu dem noch mehr Wissenschaftler antraten. In einer späteren Spielvariante setzte Axelrod die einzelnen Programme der Simulation einer natürlichen Auslese aus, wodurch sich die erfolgreicheren Programme noch stärker durchsetzen konnten, die erfolgloseren hingegen ausstarben. Die „Tit for Tat“-Strategie setzte sich sogleich an die Spitze und konnte ihren Vorsprung weiter ausbauen. Besonders aufschlussreich und überraschend an dieser Turnierversion war, dass rücksichtslose, auf Ausbeutung Schwächerer zielende Strategien sich zwar anfangs vielversprechend vermehrten, dann aber zugrunde gingen.
Die Quintessenz dieses Experiments ist nicht etwa unser christliches Nächstenliebe-Gebot in der Auslegung, auch „die andere Backe hinhalten“ zu müssen, sondern in der gleichberechtigten Betonung des „Wie-dich-Selbst“, insofern als die Förderung des Wohls des Anderen auch den eigenen Nutzen maximiert.
Für unser kulturelles Selbstverständnis folgt daraus: Wir müssen lernen, die Verbindungen unseres Selbst zu anderen Selbsten wahrzunehmen, unsere Verwobenheit mit anderen Lebewesen ebenso wie mit sozialen Einheiten, mit der eigenen und der kulturellen Historie, mit dem Boden, der uns trägt, mit der Luft, die uns umhüllt, mit unseren Wurzeln und Ausläufern, unseren Ursachen und Wirkungen. Wir müssen lernen, das Netz zu fühlen, welches jede einzelne unserer Bewegungen in die räumliche und zeitliche Ferne transportiert ebenso wie es die Bewegungen anderer an uns übermittelt. Wir müssen eine Bewusstheit wiedererlangen, einem äußerst komplexen Gefüge innezuwohnen, in dem niemals irgendein Etwas mit irgendeinem Anderen unverbunden sein kann.
Wir benötigen eine Metatheorie des Zwischenraumes, der angefüllt mit Wesentlichem ist, eine Bindungstheorie, Netzwerktheorie.
Allerdings darf man nicht ins andere Extrem verfallen und das Einzelne, Abgegrenzte, Individuelle negieren. Wie gesagt – wir dürfen zwischen dem Ganzen und dem Teil keinen dualen Gegensatz (re)konstruieren. Sagen wir einfach: Das Ganze und sein Teil, das Verbindende und das Begrenzte seien so etwas wie Momentaufnahmen in Abhängigkeit von dem räumlich-zeitlichen Standpunkt, den der Beobachter gerade einnimmt.
Es gibt in den Wissenschaften eine ganze Reihe von Ansätzen, die sich mit diesem Zwischen auseinandersetzen, bspw. die Systemtheorie, die Synergetik, die Chaosforschung. Für das Gebiet der Identitäts- bzw. Selbsttheorien will ich einige solcher Ansätze hier kurz streifen. Es handelt sich um C.G. Jungs Archetypen, Ken Wilbers Transpersonales Selbst, Hermann Schmitz‘ Neue Phänomenologie, moderne Feldtheorien (Sheldrakes morphogenetische Felder, von Burows kreative Felder) sowie meine eigene Dialektische Selbsttheorie. Diesen Entwürfen ist gemeinsam, dass sie allesamt nicht der herrschenden „main stream“-Psychologie angehören.
Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts widmete sich Carl-Gustav Jung (1875 – 1961) dem Bereich des Zwischen. Er untersuchte das kollektive Unbewusste, welches den Untergrund für das individuelle, von der orthodoxen Psychoanalyse angesprochene Unbewusste darstellt. Das kollektive Unbewusste ist angeboren und in allen Menschen mit sich selbst identisch. Jung hatte entdeckt, dass Bilder, Figuren und Erzählungen der Mythologien aller Welt unverkennbar in Träumen und Fantasien moderner Europäer wiederkehrten, ohne dass es zu entsprechenden Berührungen gekommen wäre. Insofern können diese Urbilder, Archetypen genannt, nicht während der Lebenszeit erworben, sondern müssen ererbte Strukturen sein. Diese Archetypen stellen sozusagen die Leitmotive der gesamten menschlichen Art dar. In unserem Zusammenhang ist besonders bedeutsam, dass sich diese Archetypen quasi in einem Raum befinden, welcher gleichermaßen in dir wie in mir gelegen ist und zudem möglicherweise weitere Gebiete umfasst, die wir heute nur erahnen können. In Ken Wilbers Worten liegt damit tief im Inneren des Menschen der Mythos der Transzendenz begraben.[11] Jungs eigene Interpretation ist übrigens nicht die einzig mögliche. Ebenso ließe sich annehmen, dass wir Menschen, ohne dass wir dessen gewahr würden, uns die archetypischen Inhalte laufend, auch über weite Entfernungen hinweg, gegenseitig „erzählen“.
Ken Wilber versteht das Selbst als aus fünf Schichten bestehend, von denen die äußeren die tieferen überlagern und verdecken können. Es sind dies (a) die Persona-Ebene, auf welcher das Selbst seine verbotenen Regungen, z.B. aggressive und erotische Impulse, von sich abspaltet und in die Umwelt projiziert; (b) die Schatten-Ebene, auf welcher das Selbst sich seinen Schatten wieder zu eigen macht; (c) die Kentauren-Ebene, auf welcher die Gegensätze zwischen Persona und Schatten, und damit auch zwischen Verstand und Körper, aufgehoben werden; (d) die Ebene der Transzendenz, auf der das sogenannte transpersonale Selbst des Menschen über seine individuellen Grenzen hinaus geht und die Verbindung zu einer Welt jenseits von konventionellem Raum und konvontioneller Zeit stiftet; (e) schließlich die Ebene des All-Einheitsbewusstseins als das Gesamt dessen, was jetzt gegenwärtig ist.
Ohne näher auf Wilbers Anschauungen eingehen zu können, bleibt zu konstatieren, dass der postmoderne Mensch sich vorwiegend als verarmtes Selbst auf der Persona-Ebene befindet, dass die gesellschaftlich anwachsenden Syndrome von Depression, Angst und Gewalt zur Schatten-Ebene vorstoßen; diese aber wird nicht integriert, sondern durch Pathologisierungen noch stärker dissoziiert. Unsere Sehnsüchte, wage ich zu behaupten, zielen jedoch auf die tieferen Ebenen des Kentauren, der Transzendenz und des All-Einheitsbewusstseins. Insofern wird auch der erschütternde Befund einer Studie verständlich, der Anfang 1999 durch die Medien ging: Demnach belegen die an Technologie und Wirtschaftskraft so reichen Deutschen im Empfinden von Glück einen der hintersten Plätze, noch weit hinter dem von Armut und Naturkatastrophen gepeinigten Bangladesh!
Hermann Schmitz geht mit seiner Neuen Phänomenologie[12] weit über die Husserl‘sche Wesensschau hinaus. Da diese, sagt Schmitz, den Gegenständen ihr Wesentliches eher genommen denn enthüllt habe, müsse an ihre Stelle eine Phänomenologie des Betroffenseins treten. In unserem Kontext besonders wichtig ist der Vorgang der Einleibung: Wahrnehmung sei keine mechanische Rezeption von Signalen, sondern leibliche Kommunikation, bei der sich so etwas wie ein übergreifender, über das Individuum hinausgehender Ad-hoc-Leib bilde. In diesem Sinne sind Emotionen keine inneren Prozesse, sondern eher Atmosphären im Raum, die wir allerdings gewohnt sind, nach innen zu projizieren und so von ihrem Kontext zu isolieren.
Dieses kleine Blitzlicht soll genügen, um zu zeigen, dass Schmitz keinem topologisch abgegrenzten Selbst mehr verpflichtet ist, sondern in seiner Neuen Phänomenologie darum ringt, Worte für einen Bereich des Zwischen zu (er)finden, den westliche Sprachen offenbar nur sehr schwer benennen können.
Ebenso gehen auch moderne Feldtheorien davon aus, dass es so etwas wie umfassende Identitäten geben muss, von denen das einzelne Selbst Teil ist. Bspw. wirken räumlich oder zeitlich begrenzte Orts- oder Zeitgeister, kreative Felder ( Burow) oder morphogenetische Felder (Sheldrake) auf das Erleben und Verhalten des individuellen Selbst (und umgekehrt), indem sie dieses durchdringen.
Ich selbst habe, ausgehend von einem erkenntnistheoretischen Diskurs, eine Metatheorie des dialektischen – ich sage auch gern: des unscharfen – Selbst entworfen.[13] Dieser Entwurf beruht auf dem Argument, dass es aus erkenntnistheoretischer Sicht keine überlegene Erkenntnistheorie geben kann, auch nicht wenn der Überlegenheitsanspruch verdeckt und quasi-emazipatorisch daher kommt. Vielmehr tritt das Selbst mit seinem Gegenüber – einem anderen Selbst, einem Gegenstand, einer Idee, seiner Umwelt – in einen Prozess relationaler Wahrheitsgenese ein. Es wird hier das Ineinandergreifen des Erkennens und Wirkens mehrerer Entitäten zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. Das Selbst wird nicht mehr als ein von seiner Haut begrenzter Organismus angesehen, sondern als der Bereich, in dem („objektive“) Realität und („subjektive“) Wirklichkeit, Ich und Du, Innen und Außen aufeinander treffen. Das Selbst ist deshalb immer hautnah und flüchtig. Da Wahrheit sich nur aus Relationen ergeben kann und da Relationen veränderlich sind, kann nur dann Wahrheit vorliegen, wenn sie veränderlich, d.h. vergänglich, d.h. offen für Relationen ist. Deshalb können Dogmen niemals wahr sein. Das derart gefasste Selbst öffnet sich, da es mit allem anderen Überschneidungen und neue Identitäten bzw. Qualitäten bildet, auch kreativen und morphogenetischen Feldern oder Orts- und Zeitgeistern und tritt mit diesen in erkennende Interaktion.
Jetzt wird deutlich, warum ich dieses dialektische Selbst auch als unscharf bezeichne: Es ist unscharf in dem Sinne ausbleibender gegenseitiger Verletzungen; unscharf ist es darüber hinaus deshalb, weil seine Grenzen nicht eindeutig auszumachen sind, es sei denn als Momentaufnahme von einem konkreten Standpunkt aus.
Eine der wesentlichsten Implikationen dieses Entwurfs ist der Aufweis, dass Standpunkte in den Begegnungen von Selbsten nicht als logisch, erkenntnistheoretisch usw. zwingend begründet werden können; deshalb ist mit „Erkenntnissen“ auch niemals ein Macht- oder Wissensanspruch ethisch gerechtfertigt. Dennoch leistet dieses Modell gerade nicht einem amoralischen Beliebigkeitsdenken Vorschub. Dieser Vorwurf trifft vielmehr auf duale, absolutheitsorientierte Weltbilder zu; denn für jede beliebige Behauptung sind Argumente auffindbar, die sich bei entsprechendem Einsatz von Macht und Mitteln als „absolut wahr“ ausstatten lassen!
Die unscharfe Metatheorie des Selbst hingegen beinhaltet, dass jeder Standpunkt zwingend eine Stellungnahme ist, also eine Wahl, die zu verantworten ist. Da man nicht keinen Standpunkt einnehmen kann, hat der Mensch im Sartre’schen Sinne nicht die Freiheit, nicht zu wählen. Insofern ist auch diese Selbst-Metatheorie eine Stellungnahme, deren ethischen Schlussfolgerungen ich bezeichne als die Maximen des Sowohl-als-Auch, der Offenheit, der Mächtigkeit, der Weisheit und der Behutsamkeit.
Das Kapitel, in dem Paradoxa als Wegweiser dienen
Hier möchte ich das erste Doxon, welches eben abgehandelt wurde, kurz zusammenfassen und in sein Paradoxon überführen. Anschließend werde ich einen kurzen Einblick in die Bedeutung der übrigen Doxa geben und abschließend einen Ausblick auf deren Überwindung in Richtung ihrer jeweiligen Paradoxa wagen.
- Wir haben das erste, das topologische, Doxon kennengelernt, welches jedem Ding, jeder Idee, jedem Wesen einen durch identitätsstiftende Grenzen definierten Platz zuweist, welches Überschneidungen, Austausch, Gemeinsamkeiten, Begegnungen in einer Wesen-berührenden Weise ausschließt, nicht wahrnimmt oder verbietet. Das dadurch erzeugte Prinzip ist der Kampf Jeder-gegen-Jeden, wenngleich dieser durch Regeln und Gruppenzugehörigkeiten entschärft ist. Ist aber das umgebende Feld frei von solchen Beschränkungen, tritt dieses Prinzip in brutalster Weise zutage, siehe „feindliche Übernahmen“, das sogenannte Milgram-Experiment (s.u.), „Gartenzaun-Streits“.
Das zugehörige Paradoxon ist, wie gesagt, das des Zwischen, des alle(s) verbindenden Feldes, der Unschärfe. Man könnte dieses Paradoxon so formulieren:
Das Selbst ist grundsätzlich das Aufeinandertreffen von Ich und Du, Organismus und Feld, Subjekt und Objekt, Teil und Ganzem, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Spezifisch entsteht das Selbst nur mit dem Akt einer Betrachtung von einem definierten Standpunkt aus. Der Betrachter erzeugt eo ipso eine Momentaufnahme des Selbst, die ihm das Selbst zeigt, bspw. als Ich oder als Du oder als Wir oder als einen von seiner Haut umgrenzten Organismus oder als Teil eines Ganzen usw.. Insofern ist das topologische Selbst nicht falsch; es ist aber nur eine von vielen möglichen – Husserl würde sagen: - Abschattungen der Vermöglichkeiten des Selbst. Im Allgemeinen fehlen uns in unserer Kultur die Perspektiven des Zwischen, des Ganzen, der Überschneidungen etc..
Was wir demnach dringend brauchen, um Sozialpartnerschaft, Chancengleichheit und Gerechtigkeit voranzutreiben, sind Institutionen, die nur dem Blick auf das Ganze und das Zwischen verpflichtet sind. Diese Institutionen sind multiprofessionell, multiethnisch, multireligiös usw. besetzt, und sie sind weitestgehend unabhängig von allen bestehenden Machtstrukturen.
- Das Doxon des Wissenden: Einer Vielzahl philosophischer Versuche zum Trotz basieren alle wesentlichen gesellschaftlichen Prozesse auf einem unausgesprochenen „naiven“ Realismus, auf der selbstverständlichen Überzeugung also, „die“ Realität, „die“ Wahrheit einfach ergreifen zu können. Da wo es offensichtlich nicht gelingt, bleibt zumindest der Glaube bestehen, in Zukunft „der“ Realität habhaft werden zu können und sich bereits jetzt in guter Annäherung zu ihr zu befinden.
Wo aber bleiben die Auswirkungen eines Sokrates, eines Kant, eines Hegel, eines Habermas auf gesellschaftliche Strukturen? Immer noch basiert unser Erkennen und Handeln auf dem unerschütterlichen Glauben daran, ein Wissender (oder zumindest ein Besser-als-du-Wissender) zu sein! Einerseits ist genau diese Grundhaltung die zwingende Voraussetzung dafür, ohne Zögern technischen Fortschritt zu erzielen. Andererseits – nun ja, ich will all die menschgemachten Katastrophen jetzt nicht aufzählen. Diese Katastrophen und gesellschaftlichen Aporien halten uns immer drängender, so meine ich, vor Augen, dass wir an die Grenzen dessen, was wir im Rahmen unserer Doxa erreichen können, gestoßen sind. Viele Probleme treten auf, die wir mit unseren Prämissen nicht mehr lösen können bzw. die wir vielleicht sogar mit diesen erst erzeugen! Bereits im sozialen Mikrokosmos der Zweierbeziehung oder der Familie scheitern wir mit diesem Wissens-Doxon kläglich: Kaum einer ist in der Lage, im Streitfall die Existenz mehrerer Wahrheiten zu akzeptieren. Mit einem „Aber-das-siehst-du-ja-ganz-falsch!“ wird die Wirklichkeit des Anderen kurzerhand vom Tisch gewischt.
Dieses Doxon erzeugt somit das Ideal der Fehlerfreiheit: Fehler müssen ausgemerzt, korrigiert, vermieden werden. Etwas Falsches darf niemals an der Tafel im Klassenzimmer erscheinen! Mehr noch: Der Einzelne, der sich an diesem Standard misst/ messen lässt, scheitert zwangsläufig; er beginnt, seine Fehler zu verheimlichen, ebenso seine Mängel, Schwächen, sein Nicht-mehr-Können – er versagt, wird krank, wird ausgeschlossen. Bildet er gar die Schnittstelle zwischen menschlichem und technischem Geist in einem riskanten und komplexen System (Autofahrer, AKW-Ingenieur ...), beschwört er möglicherweise eine Katastrophe herauf. Aus diesem Grund fordert der Philosoph Walther Zimmerli seit Jahren Fehlerfreundlichkeit in der Technik. Otto Mehrgardt, ein Göttinger Kunstpädagoge, geht noch weiter: Er interessiert sich sogar für die genuine Logik in „falschen“ kindlichen Auffassungen und fördert die in ihnen verborgene Kreativität.[14]
Aber auch die philosophischen Erkenntnistheorien, nicht nur die pragmatischen, (neo)positivistischen, sondern ebenso die Phänomenologien, der Kritische Rationalismus, der Konstruktivismus wie auch Konsens- und Kohärenztheorien (u.a.) machen vor dem entscheidenden Punkt Halt: Sie geben keine Antwort auf die Frage: Was geschieht, wenn zwei oder mehrere erkennende Subjekte aufeinander treffen, ohne dass eines von ihnen die letzte Definitionsmacht beanspruchen kann? Wer hat nun Recht? In meiner erkenntnistheoretischen Diskussion der psychotherapeutischen Situation[15] habe ich aufgezeigt, dass die bestehenden erkenntnistheoretischen Entwürfe zumindest heimlich ein absolutes Wahrheitskriterium anzielen und ebenso heimlich sich selbst - dem Forscher, dem Behandler, dem Wissenschaftler - gegenüber dem Laien eine größere Realitätsnähe attestieren.
Bei allen Entwürfen handelt es sich um „Ein-Personen-Stücke“, weil es stets nur um die Erkenntnisfähikgeit einer (isolierten) Person geht, weil am Ende jeweils ein letzter Beurteiler prüfen muss, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist. So erweist sich letztlich doch stets die Karte vermeintlicher sokratischer Eironeia (Selbstverkleinerung) als aus dem Ärmel gezaubertes Trumpf-As, welches den anderen nun doch ausstechen soll.
Für die psychotherapeutische Situation, die ich als Begegnungssituation von Gleichen verstehe, habe ich den „Dialektischen Konstruktivismus“ entworfen, eine Erkenntnistheorie, welche die Offenheit (Veränderungsbereitschaft) zum Kriterium der relationalen Wahrheitsgenese erhebt. Eine Erkenntnis ist demnach wahr, wenn die an der Relation Beteiligten ihr vertrauen (das Wort wahr geht etymologisch zurück auf das indogermanische uer = Gunst erweisen bzw. althochdeutsch wara = Vertrag, Treue). Sie ist solange wahr, wie sie in Relationen mit jemandem oder etwas veränderlich ist. Etwas pointiert möchte ich also das zweite Paradoxon wie folgt formulieren:
Wahr ist, was veränderlich ist. Oder – frei nach Nietzsche: Das Wesen der Wahrheit ist ihre eigene Negation.[16]
Sie werden sicherlich bereits bemerkt haben, dass diese Sichtweise eine wesentliche Implikation besitzt, nämlich die, dass Dogmen (und Doxa) nicht wahr sein können!
Was folgt nun aus dieser These der Offenheit? Hier möchte ich nochmals Gregory Bateson erwähnen, der das Doxon des Wissens als die „... Katastrophe ... wissenschaftlicher Arroganz ...“[17] bezeichnet und stattdessen die Haltung der Weisheit einfordert. Diese ist eine demütige Weisheit, nämlich die Gewissheit, dass immer hinter dem von mir erkannten Interaktionssystem ein noch größeres und komplexeres besteht, eine relevantere Dimension von Zusammenhängen, ein umfassenderer Sinn. Diese echte, sokratische Weisheit stellt mehr als jedes vermeintliche Wissen, welches nur träge und satt macht, ein heuristisches Werkzeug bei, nämlich die Neugier, das Staunen und das Fragen. Zugleich erzeugt es eine Bewusstheit, die das dualistische Entweder-Oder in ein dialektisches Sowohl-als-Auch transzendiert. Und dieses wiederum ist ein fruchtbarer Boden, auf dem Respekt und Toleranz dem Anderen und Fremden gegenüber gedeihen können.
- Das interventionistische Doxon der Macht: Das Doxon des Wissenden legt den Grundstein für die Überzeugung, dass alles im Prinzip machbar sei, dass für jedes Problem eine Lösung gefunden, dass jedes menschliche Leiden behandelt werden könne. Diese Überzeugung nenne ich Interventionismus bzw. – für den Bereich der Schulmedizin – das Behandler-Doxon.
Es gibt nun bereits seit vielen Jahren einen Forschungsansatz, welcher die autopoietischen Fähigkeiten lebender und auch artifizieller Systeme untersucht, kurz gesagt ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation. Bezeichnenderweise werden in dieser Betrachtungsweise äußere Eingriffe Perturbationen, also Störungen, genannt. Solche Systeme legen (u.a.) zwei gegenläufige Mechanismen an den Tag: einerseits die Äquifinalität, das ist die Fähigkeit, auf (nahezu) beliebige Manipulationen von außen mit immer dem gleichen Eigenverhalten zu reagieren. Das System ist also so „elastisch“, dass es immer zum Ausgangswert zurückkehrt. In anderen Momenten sind Systeme in ihrer Entwicklung von allerkleinsten Abweichungen in den Ausgangswerten abhängig (der sogenannte Schmetterlingseffekt). Das heißt: Ein System kann sich gerade in einem stabilen oder in einem multistabilen Zustand befinden. Ob das System nun völlig un- oder aber hypersensibel reagieren wird, ist allerdings infolge der Selbstorganisations-These nicht vorhersagbar. Hinzu kommt, dass ja Systeme (z.B. das Wetter) nicht isoliert von anderen Systemen existieren. So kann es also passieren, dass ich versuche, ein bestimmtes System zu beeinflussen, und dieses immer massiver tue, ohne dass dieses reagiert. (Bspw. organisiere ich im ganzen Land Regentänze als Massenveranstaltungen.) Gleichzeitig beeinflusse ich, ohne es zu bemerken, ein ganz anderes System, welches sich gerade in einem hypersensiblen Zustand befindet. (Z.B. bewirken die Tänze, dass die Menschen infolge der körperlichen Betätigung gesünder werden, woraufhin alle orthopädischen Praxen zugrunde gehen.) Es treten hier also zwei Probleme auf: (a) Es sind immer mehr (oder größere) Systeme beteiligt, als mir bewusst ist (vgl. Batesons Weisheit). (b) Ich weiß nicht, ob das betreffende System sich gerade in einem stabilen oder multistabilen Zustand befindet, zumal eine ausbleibende Reaktion ja auch bedeuten kann, dass das System zeitverzögert reagiert. Aus diesen Gründen kann man vermuten, dass sich der Interventionismus als überaus schädlich erweisen könnte. Das über diesen hinausgehende Paradoxon möchte ich so formulieren:
Lösungen erzeugen die Probleme, die sie lösen sollen.
Ich möchte für diesen ketzerischen Satz einige Beispiele anführen, von denen Ihnen das eine oder andere vertraut sein dürfte: Allgemein gesagt, zeugen die sprachlichen Wendungen der „Selbst-Disziplin“, des „Sich-selbst-im-Griff-Habens“ von einer interventionistischen Haltung dem eigenen Organismus gegenüber. Eine solche scheint in vielen Fällen dann vorzuliegen, wenn eine Person eine Diät macht. Ich kenne kaum jemanden, bei dem nach einigen Anfangserfolgen die Gewichtskurve nicht letztlich über das Ausgangsgewicht hinausgelangt wäre. Ein anderes typisches Beispiel sind neurotische Zwänge: Je mehr ein angstauslösender Gedanke – bspw. die Vorstellung, jemanden mit dem Messer zu verletzen – bekämpft wird, desto mehr beißt sich dies im Gedankenstrom fest. Soziale Ängste im Zusammenhang mit Erröten, Stottern, Schwitzen, Magenknurren usw. expandieren ebenfalls in dem Maße, wie man sie zu unterdrücken versucht. Dasselbe gilt für andere Phobien, Depressionen, Burn out u.a.. Für die Schulmedizin könnte sich ebenfalls herausstellen, dass einige ihrer Segnungen (Antibiotika, Impfungen) zu einer langfristigen Schwächung des Immunsystems führen, des Systems also, dessen Stärkung ursprünglich angezielt war.
Der Weg zur Heilung führt hier in der Regel über ein „Zulassen“ und nicht über ein „Lösen“ des Problems. In der Entwicklungshilfe ist man inzwischen von einem solchen lösungsorientierten Interventionismus abgekommen: Hier hat man nach vielen Fehlschlägen gelernt, dass derartige, durchaus positiv gedachte Interventionen auf die Kulturen der Entwicklungsländer wie Perturbationen wirken, die von dem selbstorganisierenden System „äquifinal weggepuffert“ werden.
Krohn & Küppers beschreiben in diesem Zusammenhang eine bemerkenswerte Computersimulation: In einem fiktiven Staat namens Tana-Land[18] gibt es ein ernsthaftes Problem. Kompetente, ökologisch orientierte Fachleute werden beauftragt, dieses Problem zu lösen; Geld sei genügend vorhanden, und auch politische oder sonstige Barrieren seien nicht existent. Damit sind also sämtliche Interventionsmöglichkeiten gegeben. Das überraschende Ergebnis all dieser Simulationen ist, dass – nach anfänglich positiven Entwicklungen – der Zusammenbruch des Systems nach einer Intervention stets schneller erfolgte als ohne Eingriff!
Was wir aus derartigen Beobachtungen und Befunden meines Erachtens ableiten müssen, ist folgendes: Je komplexer das System ist, in welches man eingreift, desto behutsamer hat man vorzugehen. Dies gilt auch und in besonderem Maße für vom Menschen erzeugte Systeme wie Politik, Ökonomie, Rechtsprechung. Etwas polemisch gefragt: Können Sie sich an die Verabschiedung irgendeines Gesetzes erinnern, wodurch die Situation sich nicht verschlechtert hätte, welches nicht eine Vielzahl von Auslegungen, Ausführungsbestimmungen, Gerichtsurteilen, Ungerechtigkeiten, Unklarheiten, Verunsicherungen und weiteren Gesetzen nach sich gezogen hätte?
Das Problem liegt aber nicht (in erster Linie) darin, dass sich die falsche Partei durchgesetzt hätte oder dass die Politiker durchweg unfähig wären. Die Ursache liegt viel tiefer, ist strukturell bedingt: Die Entscheidungen kommen zustande, weil die nötige Macht dafür vorhanden war, weil sie eben für eine bestimmte Gruppierung unter Einsatz ihrer Ressourcen machbar war. Diese Handlungs- und Entscheidungsbedingung „Macht“ erzeugt diese Qualität des Interventionismus oder eines – in Batesons Worten – ad-hoc-Eingriffs.[19]
An die Stelle eines solchen machtbedingten Interventionismus sollte eine neue Behutsamkeit treten, ein ökologischer Konservativismus. Die Haltung der Macht, das Machbare zu machen, müssen wir ersetzen durch die Maxime der Mächtigkeit, die ich wie folgt umschreiben möchte:
Mächtigkeit ist das Wissen um die Unausweichlichkeit der Einflussnahme. Im Unterschied zur Macht enthält sie die Weisheit, dass das eigene Handeln nicht notwendigerweise das Beabsichtigte hervorbringt und mit Sicherheit in seinen Effekten über das Intendierte hinausgeht.
Macht hingegen setzt sich immer gegen (sozialen, finanziellen, geistigen, ökologischen) Widerstand durch. Um ein Bild zu verwenden: Macht bedeutet, ein durchgehendes Pferd anhalten zu wollen; Mächtigkeit bedeutet, es so zu lenken, dass nichts Schlimmes passiert. Zusammenfassend sei gesagt:
Mächtigkeit ist das Wissen um die Unausweichlichkeit, Weisheit das Wissen um die Verborgenheit der Einflussnahme. Konsequenzen daraus sind Neugier als heuristisches, Behutsamkeit als pragmatisches, Neugier und Staunen als ästhetisches Leitmotiv.
- Das pragmatische Doxon (Gut ist, was nützt.) bzw.: The Milgram Fathers: Erinnern wir uns an Ken Wilbers „Stufen des Selbst“: Auf der Persona-Ebene findet sich das Ich, welches alle schattenhaften, also dunklen, bösen, hässlichen Bereiche seines Selbst abgespalten hat. Dies gelingt ihm wegen seiner Fähigkeit zur Dissoziation, auf dem Grund der topologischen Prämisse, recht vollständig. Das heißt, dass unser kulturelles Selbst alle diese Neigungen an sich nicht wahrnimmt, sondern nach außen, auf das Fremde, projiziert. Tritt das Böse dennoch aus ihm selbst heraus in Aktion, d.h. ohne dass die Möglichkeit besteht, es dem Fremden anzulasten, verlangt dies nach einer ursächlichen externalen Erklärung.
Dies ist dementsprechend in nahezu allen Beiträgen zum Thema „Gewalt“ als Prämisse abzuleiten: Gewalt braucht eine externale Erklärung; sie kann schließlich nicht „einfach so“ existieren! Also wird alles Mögliche für das Auftreten von Gewalt verantwortlich gemacht: die Erziehung, das Fehlen von Erziehung, zuviel Strenge, zuwenig, Gewaltvideos, Kriegsspielzeug, die Abwesenheit der Väter, deren Anwesenheit, die Ausländer, die Schule, autoritäre Lehrer, antiautoritäre Erzieher, der Werteverfall, die rigide Moral usw. usf..
In den vergangenen Jahren habe ich nur eine einzige Arbeit zu Gesicht bekommen, welche nicht nach solchen externalen Ursachen forschte, sondern einfach die These aufstellte: Das Böse tritt zutage, weil es das Böse gibt. Mit anderen Worten: Das Böse braucht keine Erklärung![20] Wenn ich mich also selbst betrachte, meine Kinder, meine Freunde, meine Patienten, unsere Nation, unsere Gattung, unsere Welt, und wenn ich dies schonungslos tue, dann kann ich nicht anders als zu sehen: Das Böse ist immer schon da! Natürlich gibt es Randbedingungen für sein Auftreten, begünstigende und hemmende; sicherlich gibt es das Böse auch als Reaktion. Aber dass es einfach „da“ ist, zeigt sich jedem, der ehrlich seine Phantasien, Träume und Lüste befragt. Wen diese Introspektion nicht überzeugt, der sei an die fürchterlichen Milgram-Experimente[21] erinnert, in denen sage und schreibe zwei Drittel der Versuchspersonen ihren Probanden bei falschen Antworten (vermeintlich) tödliche Stromstöße verabreichten! Dennoch – unser kulturelles Selbst forscht nach Ursachen; die aber eigentlich nichts erklären. Die „Erklärungen“, die gefunden werden, sind nicht viel mehr als Koinzidenzien, Korrelationen und Tautologien. Das Böse, ebenso das Alte, Kranke, Hässliche, Unnormale wird externalisiert, auf die „grüne Wiese“ ausgelagert, in Altenghettos abgeschoben, in anonymen Medizinbetrieben interniert.
Auf diese Weise wird ein gesellschaftliches Faktum skotomisiert, nämlich dass Gewalt überall ausgeübt wird. Zum einem gibt es die als kriminell stigmatisierte Gewalt, die sich meist als physische Gewalt manifestiert. Dies ist die Form von Gewalt, die – als Taten von Rechtsradikalen, Hooligans, Kriminellen, Mafiosi, Verhaltensgestörten – diskutiert wird. Die andere – meines Erachtens letztlich viel bedeutsamere und zerstörerischere – Gewaltform ist die legitimierte. Dies ist die Gewalt von Banken, Behörden, Verwaltungen usw., die sich oft nur subtil oder in Form von Androhungen offenbart. Als ganz alltägliches Beispiel will ich die typische schriftliche Zeugenladung mit ihrer Strafandrohung bei Nichterscheinen anführen. Dieser Modus der Gewaltausübung ist als solcher nicht schlimmer als jener; ich will legitimierte Gewalt auch nicht als Ursache (Entschuldigung) für kriminelle Gewalt hinstellen. Was erstere aber letztlich destruktiver macht, ist die Randbedingung ihres Erlaubtseins – sie findet demnach keinerlei Beschränkung.
Solchermaßen ausgegrenzte, abgespaltene Gewalten sind also gefährlich, und zwar nicht, weil sie vorhanden sind, sondern weil so getan wird, als seien sie nicht vorhanden! Es ist kein Zufall, das Amokläufer oft gerade die Überangepassten, Unauffälligen, Funktionierenden und Aggressionsgehemmten sind. Zufällig scheint es mir auch nicht zu sein, dass das Wort „Amok“ seinen Ursprung in der asiatischen Kultur hat, einer Kultur, welche das Böse in noch stärkerem Maße ächtet und den Umgangsformen entzieht.
Die Schädlichkeit des Ausgegrenzten richtet sich nicht nur nach außen, gegen den Anderen; auch das eigene Selbst nimmt Schaden, es krankt daran. Weiter oben hatte ich bereits erwähnt, dass Menschen in den psychotherapeutischen Praxen an diesem Ausgegrenzten leiden: Sie entdecken das Altwerden an sich und verdrängen es durch autoaggressive Fitnessmanie; sie verbieten sich Gefühle von Wut gegen den Verstorbenen und bekommen stattdessen Schuldgefühle; sie entwickeln Ängste und Zwänge, weil sie von sadistischen Vorstellungsbildern heimgesucht werden ...
Was aber folgt aus dieser Sicht? Sollen wir uns etwa das Böse, Hässliche, Kranke, Tote wieder aneignen? Sollen wir Menschen uns nach der kopernikanischen, darwinschen und freudschen nun auch noch die satanische Demütigung antun? Zugeben, dass wir alle Böses, Hässliches, Altes, Totes in uns haben?
Meine Antwort ist: Ja!
Und so möchte ich als viertes und letztes Paradoxon, quasi exemplarisch, fordern:
Waffen in die Kindergärten! Oder: Auch das Böse ist gut! Oder: Es ist gesund, krank zu sein!
Nun erschrecken Sie bitte nicht zu sehr! Ich bin kein gewaltbereiter Revolutionär. Was ich meine, ist: Holen wir diese abgespaltenen Schatten unseres Selbst wieder ins Bewusst-Sein zurück! Gestehen wir doch, dass wir böse sind! Betrachten wir doch das Hässliche! Bringen wir Alte und Junge zusammen, holen wir die Sterbenden und Toten wieder nach Hause! Geben wir dem Leiden die Zeit, die es braucht! Und: Leiten wir unsere Kinder an, ihre „Waffen“, also ihren Zorn, ihren Destruktionswillen, ihr Machtstreben, ihre Fäuste wahrzunehmen, ihre Gefährlichkeit kennenzulernen und sie zum Guten zu (ver)wenden, indem wir ihnen lebendige Grenzen setzen, an denen sie gleichwohl Ermutigung wie Halt, aber auch – bei drohender Destruktivität – Begrenzung erfahren.
Dies ist der Weg, auf dem Chancengleichheit, Sozialpartnerschaft und Gerechtigkeit gedeihen können.
[1] Ich verwende immer die maskuline Form, und zwar einfach deshalb, weil ich faul bin und Texte mit ...Innen, ...(inn)en, er/sie usw. weder gern lese noch schreibe. Die Leserinnen seien aber versichert, dass ich mich von Autorinnen auch gern mit „Leserin“ oder „Psychologin“ usw. ansprechen lasse.
[2] Watzlawick, P., (Hg), 1990: Die erfundene Wirklichkeit. München: Piper, S. 231
[3] Bourdieu, P., 1979: Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt am Main, S.36
[4] Schneewind, K., 1992: Persönlichkeitstheorien. Bd. 1 u. 2, Darmstadt: Primus
[5] Metzger, W., 1954: Psychologie. Darmstadt: Steinkopff; für mich eines der wesentlichsten Bücher der Psychologie!
[6] Weischedel, W., 1987: Die philosophische Hintertreppe. München: dtv, S.213
[7] z.B. Hegel, G., 1925: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hg. Von G. Lasson, Hamburg: Meiner
[8] z.B. Keupp, H., 2000: Identitäten im gesellschaftlichen Umbruch. In: Psychotherapeuten-Forum 1, S.5-2
[9] Bischof, N., 1966: Erkenntnistheoretische Grundlagenprobleme der Wahrnehmungspsychologie. In: W. Metzger & H. Erke (Hg.): Wahrnehmung und Bewußtsein. Göttingen: Hogrefe
[10] nach: Manfred Sliwka, Lübecker Nachrichten vom 3./4.10.1997, S.3
[11] Wilber, K., 1987: Wege zum Selbst. München: Kösel, S.116
[12] Schmitz, H., 1989: Leib und Gefühl. Paderborn: Junfermann
[13] Mehrgardt, M., 1997: Erkenntnistheorie und Gestalttherapie, Teil 3. In: Gestalttherapie 1, S.26-42. Und in: Mehrgardt, M. & Mehrgardt, E.: Ost und West im Spiegel ihrer Selbsttheorien (in Vorbereitung)
[14] Mehrgardt, O., 1995: Die originale Aussage als Bedingung im Lernprozeß. In: Mehrgardt, O. & Stolpe, A.: Eigenständiges Denken in der Schule. Kiel: Schmidt & Klaunig
[15] Mehrgardt, M., 1994: Erkenntnistheoretische Grundlegung der Gestalttherapie. Münster/ Hamburg: LIT
[16] nach: Eidenschink, K., 1995: Ein Versuch mit der Wahrheit. In: Gestalttherapie 2, S.43
[17] Bateson, G., 1983: Ökologie des Geistes. Frankfurt am Main, Suhrkamp, S. 563
[18] Krohn, W. & Küppers, G., 1990: Selbstreferenz und Planung. In: U. Niedersen (Hg): Selbstorganisation, Bd. 1. Berlin: Duncker & Humblot, S.124
[19] Bateson, G., 1983: Ökologie des Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 627
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